Traugott Giesen Kolumne 02.02.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Stimm einem Leben zu
Du hast eine Strecke gelebt, wohl Jahrzehnte.
Du hast schon einen Überblick über Dein Tun und Lassen bisher.
Lass es gut sein. Lass es Dir gut sein. Auch mit furchtbaren Fehlern, auch
mit schmerzlichem Versagen, stimm Deinem Leben zu. Nimm Deine Eltern an,
Deine Geschwister. Deine Eltern haben Dir gegeben, was sie unter ihren
Bedingungen konnten. Sie waren Dir verfügt, Du warst ihnen anvertraut
und zugemutet. Hast Du Dich oft den Pflichten entwunden, auch in der Schule,
beklag es nicht. Du hast nachgeholt. Oder bist jetzt fällig, die Mühe
nachzuholen, Dir jetzt das Wissen anzueignen, das unabdingbar ist. Jetzt
weißt Du, was Dir dringend fehlt. Als Du auf Vorrat lernen solltest,
drücktest Du Dich gern. Jetzt stimm dem von früher zu, lachenden
Herzens, und hol auf. Stimm auch Deinem Charakter zu. Du bist nicht schlecht.
Nur, akzeptier jetzt, dass Du kein Recht hast, geliebt zu sein von dem Menschen,
von dem Du gern geliebt sein würdest. Will nicht erzwingen, gemocht
zu sein.
Erzwungene Liebe ist Gewalt, sie ist gegen Deine
Ehre, und die des Anderen erst recht. Stimm dem zu; Du bist nicht der
Gewünschte, also geh oder lass gehen. Verlängere nicht Dein falsches
Leben, sondern sieh Deine Möglichkeiten. Und quittiere Dein
Unmögliches. Es ist längst zu viel Unheil aufgehäuft. Stimm
dem zu, was ist. Deine Überforderungen gegen Dich, um den Schein zu
wahren, Deine stündliche Angst, Dein gespielter Hochmut. Aber Du, Du
weißt doch um Deine schwarzen Löcher und Deine Hochstapelei. Nimm
Deinen Mut zusammen und sag, was ist. Sag "Halt!" zu Dir Täuscher. Werde
einig mit Dir, jedenfalls klarer. Auch Deine "Gebrechen, die Du nicht abtun
und überwinden kannst" (Tauler), nimm sie an, lebe sie so
sozialverträglich, wie es Dir möglich ist und müh Dich um
Ausgleich.
Noch wichtiger, als sich nichts zu Schulden
kommen zu lassen, ist: Leb Deine Begabungen, erarbeite Dir Chancen, such
den Rahmen, der Dir zusteht. Sieh, was Du in Gang bringen kannst an Gutem,
schließ Dich Höherem an. Du hast doch noch eine weite Strecke
Leben vor Dir. Stell jetzt die Weichen. Was war, hatte seine Zeit. Aber jetzt,
was machst Du daraus? Jetzt bist Du ganz allein für die Situation
zuständig. Stimm Deinem Leben zu, das noch dabei ist, zu werden. Und
endgültig abgerechnet wird doch später; jetzt verweigere die
nötige Verwandlung nicht.
Auch Deine schlimmen Erfahrungen, ob sie zum
ganzen Unglück werden, ist offen. Es kommt auf Dein Lernen daraus an.
Und was wir auch falsch machen, wir machen es noch viel schlimmer, wenn wir
auf das eine Anderthalbe setzen, also noch frech dazu werden oder für
dumm verkaufen wollen.
Dein Leben annehmen, heißt auch, Deinen
"authentischen Swing" zu finden und ihn mit Hilfe eines guten Geistes zu
behalten - das ist auch die Fährte, die Du aufnehmen solltest in Sachen
Liebe.