Traugott Giesen Kolumne 22.09.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Kirche ist für Krisen da
Die Attentate haben uns Gewissheiten weggezogen.
Auf einmal sind wir eingebrochen in der Wirklichkeit, wie man in dünnem
Eis den Halt verliert. Was sicher galt, ist gebrochen, die uns Mitmenschen
schienen, entlarvten sich als Macher der Hölle. Und wir sahen, hörten,
wie Menschen um Hilfe schrien und Hilfe sich nicht fand. Das hat uns das
Urvertrauen genommen, diesen guten Glauben, dass die Dinge halten, was wir
uns von ihnen versprechen. Auf einmal ist alles voll Angst. Und das treibt
zur Kirche.
Da öffnen sich Räume, die man lange
nicht genutzt hat. Und wie gut, dass sie noch da sind. Kerzen leuchten auf
dem Altar, und jemand sorgte für Blumen. Da ist noch das Kreuz mit dem
Gottesmann und Bilder mit alten Geschichten von Rettungen. Und Menschen sind
hier, sie reichen ein Blatt, man darf singen oder es bleiben lassen, darf
mitbeten laut oder leise oder zuhören, wie sie sagen: "Vater unser"
- und wohl keiner wehrt ab: "Meiner nicht". Ein Bevollmächtigter sagt
gültige Worte von Trauer und Trost. Und verspricht: Wie tief wir auch
fallen, bleiben wir in Ihm, dem Herz aller Dinge, Gott genannt oder Allah
oder Geheimnis der Welt.
Der Alltag geht ja ohne Kirche, wir eilen
normalerweise vorbei. Dabei brauchen wir, was da geschöpft wird bei
Kirche, dem gefassten Becken für Lebensmut aus tiefen Quellen. Weit
über das offizielle Kirchentum hinaus lebt die zivile Gesellschaft von
einem wenn auch verdünnten Gottvertrauen: Das Band der Melodien dudelt
unser Pfeifen im Keller, aus unseren Steuern erhalten die Bedürftigen
Sozialhilfe, die Zeitung erzählt uns jeden Morgen, dass wir noch Grund
zum Lachen haben, und der ADAC hilft auch den Nichtmitgliedern. Der Alltag
geht ohne Kirche, Gott ist ja da, irgendwie, irgendwo.
Aber in Katastrophen treibt es uns wieder an
Orte der Gewissheit. Da läuten Glocken, dass es noch kein Ende mit uns
hat. Da kommen aus der Bibel die Psalmen zu Gehör, die Gebete, in denen
seit dreitausend Jahren Leidende sich wiederfinden. Da ist bewahrt: "Die
mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten." Und: "Von allen Seiten
umgibst du mich und hältst deine Hand über mir." Da bürgen
Worte des Jesus, dass wir durch den Tod hindurch nach Hause kommen. Kirchen
sind in diesen Tagen wieder Fluchthütten, wo Menschen sich an die Hand
nehmen und bestätigen: "Es wird nicht dunkel bleiben über denen,
die in Angst sind." Sie bestärken sich in dem Wissen, dass Gott seinen
Menschen gerade in den Unglücken besonders nahe bleibt, weil so besonders
mitbetroffen. Sie beraten, wie wieder Vertrauen wächst und wie Mitarbeit
am Frieden tröstet. Es ist zum Weinen schön, wie viel Liebe neu
entzündet ist, wie Teilen anfängt und wir einander im Verstehen
anleiten.
Kirche ist auf einmal wieder gefragt: Zeig deine
Schätze, deine unabgegoltenen Freiheitshoffnungen, dein Wissen von
Gerechtigkeit, die von Liebe gespeist ist, dein Gebet um Weisheit für
die Regierenden, und dass die Welt nicht zum Teufel geht. Sondern Verlass
ist auf den guten Ganzen, der auch das Chaos umfasst.