Traugott Giesen Kolumne 19.05.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Vergebung in Anspruch nehmen
Dies dauernde Zurückfallen: Hättest
du doch mehr hingehört, wärst du doch an jenem Abend zu Hause
geblieben. Oder warum habe ich mir die Wahrheit nicht eingestanden, warum
war ich nicht mutig? Und dann erklärst du dir, dass die Umstände
schlecht waren und du doch Geld verdienen musstest, Streit vermeiden, den
Kleinen schonen oder Rücksicht nehmen auf die Schwiegereltern, die euch
Kredit gaben.
Das Zwiegespräch in dir läuft immer
mit, was du auch sonst noch tust: Du klagst dich an, du verteidigst dich,
du hörst die anderen über dich urteilen, du hältst dir die
Ohren zu, redest dich raus. Darüber bist du innerlich ein Wrack geworden.
Doch du kannst wieder zu Kräften kommen. Erkenne deine Schuld an, wisse,
dass Gott sie vergeben hat. Lebe liebevoll. Spiel das noch mal durch: Du
hast so und so gehandelt und unterlassen. Du hast neben Gutem auch Böses
getan, warst ungeduldig, nachlässig, auch fies und feige. Du hast
Mitschuld.
Du betest zu Gott, dem Ganzen; zu dem, der alle
Geschichte umfasst; der alle Macht ist, insofern alle Energie die Seine ist.
Der letztlich auch der Geschädigte ist, weil ja seine Energie von uns
für Böses missbraucht wird; der darum auch die letzte Instanz für
Schuld und Vergebung ist.
Der vergibt dir, sieht dich nicht mehr
defizitär, er rüstet dich aus zu neuen Chancen, mit Zeit, Begabung,
Wiedergutmachelust. Der vergibt dir, indem er dich weiter beteiligt, das
Leben genießbar zu halten.
Und du widmest dich jetzt der Gegenwart, willst
gern du sein; willst machen, dass andere glücklich werden auch wegen
dir. Du lebst mit Freude nach vorn. Und du lässt die Vergangenheit auf
sich beruhen. Sie ist ja eingewoben in die Geschichte, Gottes Haut oder Mantel.
Was war, bleibt in dem, was wird. Du wirst nicht mehr Schuldgefühle
haben. Das ist klebriger Ersatzstoff, der dich lähmt und lamentieren
ließ. Du hast deine Schuld erkannt, hast sie denen eingestanden, die
darauf ein Recht haben, hast ein Stück Erstattung geleistet, so gut
es dir möglich war. Und du hast vor Gott Vergebung erbeten und zugesagt
bekommen. Du lässt dich jetzt von ihm nach vorn schieben, lässt
dich bescheinen von der Sonne seiner Liebe. Und deine Schatten, dein Böses,
fällt hinter dich zurück.
Das "Ach, hätt' ich doch", das "Wäre
ich doch" ist verblasst, du widmest dich dem Jetzt und machst heute, dass
ein, zwei Menschen etwas lieber leben. Du brauchst dich nicht mehr entschuldigen,
was bei Besichtigung der Vorwürfe ja rettend scheint, aber eben nur
festhält. Du bist hingedreht worden zu jetzt und dann.
Es geht nicht um ein Verdrängen von Schuld;
das geht gar nicht. Uneingestandene, darum unvergebene Schuld, nagt an einem,
frisst einen von innen auf, bis man so hohl ist, dass der Tod erlöst
vom Längstgestorbensein. Um aus Schuld weiterzukommen, muss man
wenden.