Traugott Giesen Kolumne
10.02.2001 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Freiheit und Bindung � woher Werte?
Früher hatte man viel Bindung, strenge
Eltern, harte Herren, die sagten, was sich gehört. Und die Kirche
war die Schule der Nation, bläute die Gebote ein, die Drohung mit
dem Jüngsten Gericht hielt sie alle in Schach. Bis auf einige Kirchenfürsten,
die meinten, sie wären nur Gott untertan, zu dem sie einen unmittelbaren
Draht hätten.
Heute ist viel Freiheit, wenig Bindung
und die Werte schwimmen. Allerdings, je mehr einer in der Öffentlichkeit
steht, um so mehr wird er entblättert bis unter die Haut. Erstaunlich,
über wie vielen Familiengeheimnissen Schweigen liegt, wie viele Totenscheine
ohne Skepsis ausgestellt werden. Wieviel Unrecht wird nicht verfolgt. Und
doch: Auch Nächstenliebe ist unter uns. Wir rufen per Handy garantiert
Hilfe herbei, wir knien uns hin zum Zerschmetterten und legen eine Decke
unter. Es gehen Menschen Blut spenden, es fallen Münzen in die ausgestreckte
Hand, Stiftungen blühen.
Frühere Generationen lernten die
Zehn Gebote noch mit Luthers Erklärungen. Aber seit 56 Jahren kein
Krieg bei uns, das ist in seiner Wertfülle gar nicht auszuschöpfen.
Natürlich gehen heute Ehen schneller in die Brüche. Aber es gibt
mehr Liebe ohne Institution, nie durfte so beglückend und angstfrei
geliebt werden, auch das ist in seiner Wertfülle nicht gross genug
zu schätzen. Und die jungen Leute schwärmen für Treue, Verständnis,
Gespräch, fühlen sich lange ihrer Herkunftsfamilie zugehörig,
wollen selbst mal Familie gründen. Sie haben Lust, beruflich vorwärts
zu kommen. Sie wollen nützen und was davon abbekommen.
Sind wir nicht ethisch besser dran als
je? Was gab es ein, zwei Generationen vorher für ein Schwadronieren
von der angeblichen deutschen Herrenrasse. Und wie ist das alles vorbei,
bis auf einige Wahnsinnige, die irgend etwas Hervorstechendes haben wollen.
Es ist doch nahezu allen klar, es gibt keinerlei biologische Rechtfertigung
von rechtlichen, politischen, sozialen Unterschieden bei Mann, Frau, Schwarz,
Weiss, Hetero, Homo, den Rassen. Man sehe Boris und Babs, den vielfach
verheirateten Kanzler, den grandiosen Clinton, gedemütigt für
eine reine Privatsache, die ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren,
das eigentlich Perverse war; und er bereute und stand aufrecht und wurde
geliebt und hat die bisher freieste und solidarischste USA gebaut.
Selbst wer Frömmigkeit für menschlich
unverzichtbar hält, muss nicht verzagen, auch wenn das offizielle
Kirchentum blass ist. Der grosse schwedische Betreiber des Zusammenhalts
der nicht-römischen Kirchen, Nathan Söderblom, sagte: �Fromm
ist, für den es etwas Heiliges gibt.� Es gibt viel Ehrfurcht gegen
Kinder, Schönes, die Liebesumarmung, Bäume, Mozarts Musik, Gartenarbeit
und den Nächsten, der dich bittet, und gegen den anonymen Gott. Wir
selbst müssen die Lösung herausbekommen, die er uns aufgibt.
Das weiss auch, wer nicht an ihn glaubt.