Traugott Giesen Kolumne
27.01.2001 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Wieviel Recht auf Irrtum?
Die unter Hitler viel Gewalt getan haben,
konnten doch Schuld einsehen, konnten neu denken lernen, ihren Glauben
an Heldentreue fahren lassen und sich einsetzen für friedliches Zusammenleben.
Die für die SED spitzelten konnten umlernen, sich bei ihren Opfern
entschuldigen und sich in Zukunft für Gerechtigkeit einsetzen. Die
Achtundsechziger verachteten den biederen Interessenverein Bundesrepublik
und wollten die Verhältnisse so gerne umstürzen. Nachdem die
Krusten gesprengt seien in Staat und Kirche und Kunst und Gesellschaft,
sollte ein freies, phantasievolles, modernes Neues werden. Dafür griffen
sie die Spitzen des alten Systems an, warfen mit Eiern und Steinen, schlugen
mit Fäusten � ein Teil verzweifelte und mordete. Die büssten
mit dem eigenen Tod oder mit langjährigen Strafen. Die grosse Mehrheit
der Achtundsechziger lernte den langen Atem und ging den Weg durch die
Institutionen.
Dürfen sie Ämter des Staates
einnehmen? Können sie heute Vorbilder sein? Es muss ihnen verziehen
sein nach Jahrzehnten glaubwürdigem Wandel. Wir dürfen einen
Menschen an dem, was er getan hat, nicht festhalten. Nach Busse, abgeleisteter
Strafe, nach Bekehrung und jahrelanger Bewährung ist Raum für
Verwandlung genutzt: Wir alle brauchen Raum für Verwandlung.
Unvermeidlich ist für den Menschen
die Entwicklung seiner eigenen Person; Leben ist eine Reise durch finstere
Täler und lichte Höhen und durch viel Gestrüpp. Es ist Gnade,
wenn wir ohne Verbrechen durchkommen. �Verbrechen sind die in Sündern
stattfindende Vereinigung alles dessen, was die andern Menschen in kleinen
Unregelmässigkeiten abströmen lassen� sagt Robert Musil. Das
ist keine Entschuldigung des Unrechts, aber diese Erkenntnis rückt
uns Sünder nah zueinander. Jesus fragt: �Was zeigst du auf den Splitter
im Auge deines Bruders, aber den Balken im eigenen Auge übergehst
du?� und: �Wer wenig Vergebung braucht, liebt wenig.�
Nicht auszutrinken ist die Weisheit der
Bibel. Der Herr gibt Abels Mörder sein Zeichen, er haftet für
Kain. Und was hat Kain aus der gestundeten Zeit gemacht? Er baute eine
Stadt, seine Nachkommen fanden das Zither- und Flötenspiel, den Erzabbau
und die Eisenschmiede.
Siebzig mal siebenmal sollen wir vergeben
� wohl weil wir in dieser Grössenordnung Vergebung brauchen. Und je
mehr Verantwortung wir tragen, je grössere Bündel Entscheidungen
wir treffen, desto mehr steigt unsere Versagensquote. Darum müssen
wir uns, je höher die Ämter, um so mehr Kontrolle gefallen lassen,
müssen sie geradezu verlangen, weil Irren menschlich ist. Und menschlich
ist, an Umkehr und Einsicht zu wachsen. Erinnern wir uns: �Das Christentum
hat nicht den Begriff der Sünde erfunden sondern den der Verzeihung�
(G. Dàvila).