Traugott Giesen Kolumne 20.01.2001 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Geh nicht zu weit.
�Güte braucht eine scharfe Kante,
damit sie nicht mit Dummheit verwechselt wird.� � Albert Schweitzer sagte
das, der ausgewiesene Menschenfreund. Wohl auch, weil er sich selbst gut
kannte.
Denn irgendwann platzt jedem der Kragen
oder läuft die Galle über oder sieht rot und explodiert. Darum
gut, wenn wir uns Zeichen geben bevor wir ans Eingemachte kommen; gut,
wenn wir die Schmerzgrenze ahnen, lange bevor einer aufschreit. Und gut,
wenn wir Laut geben: Du, das ärgert mich oder kränkt mich; hier
trittst du mir zu nahe.
Wir haben ja das feine Zeichensystem der
Sprache � können erklären, warnen, locken, Brücken bauen
und abbrechen. Aber die einen haben zuviel Worte, andere nie genug. Man
kann mit Worten bespucken und mit Schweigen auch töten. Wichtig ist
zu fühlen, was mit mir ist und meinem Nächsten, und Bescheid
zu sagen, Klarstellung erbitten und geben.
Es kann auch klug sein, Dinge auf sich
beruhen zu lassen. Man muss keinen Betriebsausflug losbrechen, wenn die
Zusammenarbeit kollegial gelingt. Es ist solch ein Wunder, einigermassen
klar zu kommen mit anderen. Es grenzt doch schon an ein Wunder, meine Irrtümer
und Zweifel, Gewissheiten und Neigungen in einer Person zusammenhalten
zu können, ohne verrückt zu werden. Ein Kunstwerk ist es, die
richtige Nähe zu halten, damit was Gemeinsames gelingt, und die richtige
Distanz, damit man sich nicht auf reibt.
Man muss auch nicht alles wissen. �Liebe
deckt zu� heisst es in den Sprüchen der Bibel (10, 12), was übersetzt
auch heisst: Frag nur, was du musst. Und entschuldige, rede Gutes, kehre
zum Besten.
Aber meine Armfreiheit endet spätestens
vor des andern Nase. Werde ich gespürlos und jage dem andern Angst
ein, oder gefährde ihm die Existenz, dann kann sein Wille aufplatzen
und sich in scheinbar anlassloser Gewalt entladen. Dann waren schon viele
seiner roten Ampeln überfahren, waren viele seiner Tränen für
Rotz erklärt, ist schon viel Verachtung erlitten, so dass er in Gewalt
seine letzte Rettung sieht, um einmal nicht mehr Opfer sein zu müssen.
Bewahren wir einander vor Verrohung und
Kaputtmachen, holen wir Hilfe, schlagen Alarm, wo Menschen mit Menschen
überfordert sind, nicht erst, wenn Kinder mit Prügel oder Alte
mit Fesselung zur Ruhe gebracht werden. Unser Selbstwertgefühl ist
doch das sicherste Gefühlsmass für das Wertsein auch des anderen.
Entwerten wir einen, dann wird er langfristig auch andere wie einen störenden
Gegenstand behandeln und aus dem Weg räumen.
Dies Sichern der Menschenwürde ist
auch der Sinn der Zehn Gebote und unserer darauf fussenden Rechtsordnung.
Sie setzen einen Zaun bis wohin unsere Freiheit geht, bieten ein Gehege
des Gelingens. Auf alten Landkarten stand an den Grenzen der bekannten
Welt: Jenseits wohnen die Ungeheuer.