Traugott Giesen Kolumne 30.12.2000
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Zum Jahresende Jahresringe schreiben.
Das Jahr entlassen wir mit allerhand Schnickschnack,
um lustig ins nächste zu surfen. Das Neue begrüssen wir mit farbenfrohem
Feuerwerk, mit Böllern und Zischen und einem in der Krone � erstaunlich,
bei so viel Mühe und Bewahrung. Ein �Grosser Gott, wir loben dich�
ist doch fällig von uns Überlebenden, Bewahrten, uns Gesättigten
und Entronnenen. Beschützt, geleitet, geheilt sind wir ohne Verdienst
und jenseits unseres Leistens. Und deine Not war gelinde, oder?
Natürlich ist ein gerundetes Jahr
nur ein Zeitmass, der Tag ist mindestens von genau so hoher Qualität
� morgens jung, mittags mitten im Leben, abends alt; der Schlaf ein kleiner
Tod. Und morgens das Staunen: wir sind noch da. Auch die Woche ist ein
kluges Quantum, der Bogen von der Arbeit zum Feiertag und dann wieder arbeiten;
der Monat eine gute Dosis in den Jahreszeiten.
Aber das Jahr, ja es ist nur ein Zeitmass
unter anderen, aber es ist doch ein Packen, so ein Jahr; viel gewonnen,
viel zerronnen, Abschied und Neubeginn geschah zuhauf. Ein Jahr ist eine
Menge Zeit, und die meisten haben mehr als die Lebens-Hälfte hinter
sich. Also allen Grund, das Jahr mit einiger Ehrfurcht ziehen zu lassen.
Und Grund, um ein neues ganzes Jahr zu
bitten � dass du, ich es erfahren dürfen, ist völlig offen. Die
neuen Kalender sind schon gedruckt, aber es sind ja ganz allgemeine Raster.
Ob wir sie mit unsern Terminen füllen dürfen, ob uns noch ein
Sommer, ein Weihnachten geschenkt ist, ist völlig offen.
Darum ist auch beim Abschied des Jahres
ein Gedenken doch fällig. Nach den Rückblicken auf die Tages-Themen
des Jahres ist dein Überstandenes und Genossenes, dein Erlittenes,
Versuchtes, Versiebtes doch wenigstens dein Merken wert. Es darf nicht
alles in den Vergessensfluss gekippt sein. Sichere deine Erfahrung, zähl
deine Wunden, gedenk der Geschenke des Schicksals, vergiss nicht, was Er
dir Gutes getan hat, dank für einen Menschen besonders. Es gibt eine
gute Methode, das wichtigste Persönliche festzuhalten. Die Natur schreibt
in die Bäume Jahresringe. Darin lagert sich das Gedeihen ab und wird
lesbar für lange. Wenn noch nicht geschehen, besorg ein Heft, Grösse
eines Poesiealbums genügt. Lass einige Seiten frei für die Namen
aller acht(?) Urgrosseltern; und für deine Herkunft, Kindheit, Jugend,
Berufsanfang, deine ersten Lieben, Mühen, Beschwernisse, erste Bindung.
Schreib heute erst mal dieses, dein Jahr auf, eine Seite: Liebe, Gesundheit,
Familie, Arbeit, Geld, Freizeit, Freundschaften, Gesellschaftliches; was
hinzugelernt, was verloren, was schuldig geblieben, wobei zugesetzt. Und
vielleicht ein Blick über den Horizont: was lassen, was suchen? Nichts
endet wirklich, es mündet in ein Grösseres. Nichts ist verloren,
auch das Nichtbedachte wirkt sich aus. Doch wir reifen mittels dessen,
was wir behalten. Ein gutes, neues Jahr voll Segen, Ihnen.