Traugott Giesen Kolumne
18.11.2000 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
An die Adresse für Dank und Klage:
Warum?
Da wollen sie Spass haben, Freude im gleissenden
Schnee, hochgemut ist die Stimmung, das Glück zum Greifen nahe, noch
ein paar Minuten durch den Tunnel, dann steht man auf den Brettern und
fühlt sich ganz gross. Mit einem dicken Polster Lebensfreude wollten
sie abends wieder nach Hause und fuhren in den Tod.
Die letzten Momente verzweifelt, Fremde
halten einander, sie atmen den Tod, irdisch sind sie nicht mehr fassbar.
Wohin sind sie weggegangen? Worin ist ihr Sein aufgehoben? Wie bleiben
sie Teil eines Ganzen, behalten Anteil an Zukunft? So abgerissen ihr Lebensfaden
� wer schafft ihnen Vollendung? Sie wollten Zipfel Freude, Geschmack der
Wonne � aber ist nicht alles Menschensehnen hier der Schrei: �O Heiland,
reiss die Himmel auf�? Hatten wir doch bestenfalls hier nur Schimmer von
Himmel, Hauche von Seligkeit. �Das kann nicht alles gewesen sein, das bisschen
Sonntag und Kinderschrein� (W. Biermann). Im Namen der Toten erbitten,
erflehen, verlangen wir so was wie Auferstehung, Heilung und Vollendung.
Vorweggenommen sollen sie sein in eine Fülle. Gott, wenn es dich gibt,
dann gibt es sie für dich, immer. Und sie sind geborgen in das Haus
von Licht.
Entsetzlich ist ihr Fehlen. Jeder war
die Mitte eines Lebenskreises, liebte und wurde geliebt, bildete Sinnraum
mit, war Freuden- und Leidensgefährte. Jetzt ist er, sie weggebrochen,
ist herausgeschnitten aus andern Biographien � die mit aufgerissener Seite
erstarrt sind für lange Zeit. Und wir Anderen, Ferneren erschauern,
wie das Leben brüchig ist. Und beklommen dankt in uns was, noch hier
sein zu dürfen auf dieser schönen, armen Erde. Warum sie und
nicht ich?
Diese waren nur für die kurze Fahrzeit
zusammen und sind doch zum gemeinsamen Schicksal verschmolzen, wie zufällig
gerade sie, kurze Zeit später hätte es ganz andere Menschen getroffen.
Die Vorstellung, eine höhere Macht habe genau diese Menschen in diesen
defekten Wagen geschickt, ist absurd. Abartig ist mir die Idee, Gott würde
Leid verursachen, zulassen, auf den Hals schicken. Der Gott des Jesus denkt
keinem Böses zu.
Und doch ist Jammer, Leid, Böses
in der Welt. Vielleicht ist Gott dabei, dem Chaos das Gute abzugewinnen,
und hat die Erschaffung des Reiches Gottes noch in Arbeit. �Allmächtig�
heisst nicht, dass ein überirdisches Genie tun und lassen kann was
es gerade will. Sondern alle Macht, alle Energie ist die Wirkung, ist Aussenseite
Gottes, ob in Wind oder Muskeln sie spielt, als Elektrizität wirkt
oder als Qualm vernichtet oder als Nähren und Streicheln Leben schafft.
Letztlich leidet das Herz aller Dinge alles mit, alles ist sein Leib, und
ob wir leben oder sterben, bleiben wir sein und haben darum Sein, und die
Liebe hat noch viel mit uns vor.