Traugott Giesen Kolumne 14.10.2000
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Lebensfunken wollen leuchten
Du bist manchmal lustlos, auch mal über
längere Strecken. Du siehst dich dann schwächelnd, ausgebrannt,
willst dich verstecken, lässt dich verleugnen. Du magst dich selbst
nicht, beäugst dich im Spiegel, lästerst deinen Körper nieder,
wirst auch rücksichtslos gegen dich � du schaufelst in dich rein,
oder kotzt dich aus, du bejammerst dich, klagst die Welt an, dass keiner
dich liebe, aber du verachtest auch die, die dich mögen. Manchmal
hast du von dir genug, würdest gern am Morgen nicht mehr erwachen.
Aber.
Ja, es gibt ein grosses Aber, ein herrliches
Trotzalledem. Das achte, ehre, pflege. In dir ist eine Flamme namens Ich,
die glüht, die spürt sich, die will Fackel sein. Auch wenn dein
Ich nur klein ist wie ein Teelicht, dem Verglimmen nah � so giert dein
Ich doch immer noch nach Lebenszunder. Gib deiner Flamme Stoff. Lass Luft
an dich ran. Lauf oder nimm das Fahrrad und fahr, soweit du kannst; da
im Wald komm zu dir. Und berate dich.
Was denn, wer denn lähmt dich? Ein
Nächster, dem du mehr versprochen hast, als du jetzt halten willst?
Oder bist du angenagelt an dich Erste Person Einzahl � bist einfach zuviel
allein? Oder kostet dich deine Arbeit zunehmend Kraft? Oder hast du einen
Schmerz im Körper oder miese Nachbarn oder bedrängen dich Schulden?
Was es auch sei � dann weisst du ja dein Projekt. Loskommen, verabschieden,
klare Schnitte.
Wer denn ausser einem Kind hätte
Anrecht auf dein Bleiben? Bei wem du nur aus Angeklebtsein bleibst, der
kann von dir kein Glück erlangen und du von ihm auch nicht. Wenn Alleinsein
dich erstickt, dann such Menschen und lass dich wieder finden. Oder zieh
endlich in eine passendere Wohnung, verhandle deine Arbeit neu, klär
was ab beim Arzt. Tu was. Beschaff dir Luft, Weite, Spielraum, Gewissheit,
Freiheit. Räum auf, schaff ab, verschenk, gib�s zum Sperrmüll,
tapezier neu � und du hast Weite statt Enge.
Werte deine Erlebnisse neu. Man hat dir
Leid angetan. Aber verlängere das nicht, brich endlich auf aus deiner
Trauer. Du, ganz allein du, bewertest die Ereignisse. Die Fakten kannst
du nicht ändern. Aber was sie dir bedeuten, das steht in deiner Macht.
Und du willst nicht mehr von altem Schimpf geprägt bleiben. Denn dem
die Zeit gehört, der segnet dich, das heisst, der �bereitet dir einen
Tisch im Angesicht deiner Feinde�, Du hast es schon mal gewusst, Psalm
23, ach ja.
Und besinn dich auf deine Stärken.
Du kannst was gut, das bilde aus, mach mehr daraus. Woraus kannst du Freude
ziehen? Das vermehr, das pflege, das erweitere, kultiviere es. Sport oder
Kunst, oder beides, oder Computerclub, oder Grüne Dame im Krankenhaus,
oder One-Dollar-Senior bei Neustartern, oder Kochen lernen und andere einladen.
Tausend Sachen warten auf dich, dass du sie anfasst. Und dein Ich wird
blühen, du bist wunderbar, komm ran.