Traugott Giesen Kolumne
23.09.2000 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Der alte Apfelbaum
Ich blicke von meinem Schreibtisch aus
auf einen Apfelbaum, der bald die ganze Aussicht füllt. Er lehrt mich,
mit den Gezeiten des Jahres zu leben. Wie Üppiges und Karges sich
ablösen, er lässt es sich gefallen. Für Werden und Vergehen
ist er Zeuge, er führt auf das Kommen und Verweilen und das Gehen.
Jetzt strotzt er vor Äpfeln, fast wie Trauben an der Rebe sitzen die
Äste voll der grünen, zartes Rot ansetzenden Früchtchen.
Die Zweige müssen gestützt werden. Sie senken sich bis auf den
Boden.
Der Baum ist ein Abbild prallen Lebens.
Dicht stehen die Blätter, durch die der Wind rauscht oder säuselt.
Manchmal steht er still wie eine Skulptur. Andere Bäume mögen
höher sein oder ausladender. Aber an Saft und Kraft übertrifft
er viele. Das erstaunlichste ist, ich kenne diesen Baum schon 24 Jahre.
(Eigentlich wollte ich sagen �meinen Baum�, aber er gehört dem, der
mit ihm redet, sich an ihm freut, und das sind viele).
Seit ich ihn kenne, ist sein Stamm ausgehöhlt,
wie ich es nur von Olivenbäumen im Süden kenne. Er ist mal mit
einer Wachs-Ölschicht abgedichtet worden, aber diesen Deckel hat er
wohl nicht gemocht. Schwarze, duftende Erde schimmert in seinem Inneren.
Der Stamm steht noch ehern, eigentlich ist er nur Rinde, mit ein wenig
Holz und eben der wasserführenden Haut. Ziemlich windgeschützt
steht er. Ein Jahr, das sagt�s dem andern: Noch gut, hier Frucht zu bringen,
gut, den Vögeln zum Nisten zu dienen, den Kindern als Kletterland,
gut auch der Familie den Schattenplatz zu schaffen. Und die Blüten
im Frühling, ein Kleid von weissem und zartem Rosa, ein Rausch, bis
ein schüttender Regen das Weiss herunterreisst, dann zeigt der zerrissene
Flor, wie Schönheit vergeht.
Der Baum lebt in seinem Mass. Ein Jahr
bringt er Früchte, ein Jahr ist er erschöpft. Aber wenn er Frucht
bringt, dann reichlich; er überschüttet uns mit seinen Geschenken.
Dann wird auf dem Speicher die reiche Fracht ausgebreitet, einige Wannen
voll werden auch am Strassenrand verschenkt. Bis Weihnachten gibt�s viel
Apfelmus, dann schrumpeln die Schätzchen langsam ein. Und im Februar
wird klar Schiff gemacht.
Nicht sehr viele Äpfel werden wirklich
verspeist, aber ein starker Lernstoff ist er immer wieder, dieser mein,
auch mein Baum: Gut zu leben; gut, Frucht zu bringen; ein Glück, guten
Standort zu haben; und alles hat seine Zeit und ist gefährdet. Wer
wollte leben ohne den Trost der Bäume und ohne die Ordnung ihres Rauschens?
Bäume sind gute Lehrer � sie stehen
aufrecht und biegen sich, um sie selbst zu bleiben. Paul Gerhardt hat 1653
�Geh aus mein Herz und suche Freud� gedichtet. Die 14. Strophe heisst:
Mach in mir deinem Geiste Raum, dass ich dir werd ein guter Baum und lass
mich Wurzel treiben; verleihe, dass zu deinem Ruhm ich deines Gartens schöne
Blum und Pflanze möge bleiben.