Traugott Giesen Kolumne 29.07.2000 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Der Augenblick ist dein
Dies Abreissen des Lebens entsetzt uns zutiefst. In einem Nu ist alles
anderes, bin ich nicht mehr von dieser Welt. Aber wie soll das gehen, dass
ich fehle? Nicht mehr der Gefährte, die Geliebte sein, die Chefin,
der Kollege, die Schwester. Es soll auf einmal ohne mich gehen und die
Sachen anderen gehören? Sogar das Auto hört doch auf mich, und
wer kann die Bücher schätzen, und wer liebt die Kinder, und diese
Unordnung zu Haus, es geht nicht.
Und die Sonne soll ich nicht mehr sehen, nicht mehr plaudern, überzeugen,
nicht mehr streicheln und mich streicheln lassen, nicht mehr die Enkel
sich entwickeln sehen.
Ich soll nicht mehr wollen dürfen? Nicht mehr auswählen und
entscheiden, nicht mehr kaufen, spazieren, nicht mehr Mozart hören,
Kirschen schmecken, nicht mehr mich freuen?
�Alles hat zwar seine Zeit� sagt der Prediger der Bibel �geboren werden
und sterben, pflanzen und ausreissen, würgen und heilen, brechen und
bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Steine sammeln und Steine
wegwerfen, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und verlieren, behalten
und verteilen, zerreissen und zunähen, schweigen und reden, lieben
und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit�. � Ja schon, sagen wir, der
Wechsel ist das Normale, aber überhaupt keine Zeit mehr, der Triebfaden
reisst, abgelaufen meine Frist? Dann sind wir weit voraus katapultiert.
Die Nächsten sind Hinterbliebene, noch weit hinten auf der Strecke,
rennend, rettend, laufend, ich schon vorweggenommen ins Ziel. Gott ist.
Ich weiss es.
Ja, wir sind einverstanden, auch einmal zu gehen und andern zu lassen
die Liebe, die Sachen, die Blumen, die Mühen. Aber bitte, nicht jetzt,
noch nicht jetzt. So betet es in uns, bitte kein �böser, schneller
Tod�. Mal abgeschält werden vom schönen schweren Leben, lebenssatt
gehen, mit Abschied, mit Winken und Freigeben. Das hat was von Ernte und
erfüllter Zeit. Aber dies plötzlich Stockdunkle, dies Verlöschen,
es zerreisst so viel, es tut nur weh.
Mit jeder Stunde gehen wir aufs Sterben zu. Und es ist ein zuende Geborenwerden,
das Leichentuch ist letzte Windel. Wir geben doch das Leben zurück,
unsere Seele, unser Ich kehrt zurück ins Einundalles. Und bringt die
Beute an Erfahrung, an Schuld und Auf-den-Geschmack-gekommen-sein. Gott
wird mal das Ganze alles Geschehenen und Gefühlten sein plus was daraus
wird. Und du wirst teilhaben. In-Gott-sein ist das Gegenteil von Todsein.
Also keine Angst vor Dann, kein Grämen vor dem Tod, auch kein Grämen
um die Toten. Sie sind im Glück. Uns ist aufgegeben, jetzt zu leben.
Jetzt trauern mit den Trauernden und für die Leergeweinten wissen:
Die Liebe kommt in neuen Kleidern wieder, zu ihrer Zeit.
Wir haben jetzt nichts als jetzt. Und in diesem Nu liegt die Fülle,
also stemm dich jetzt ins Leben, diene ihm, und lass dich beglücken.
Andreas Gryphius sagte es doch schon vollkommen: �Mein sind die Jahre nicht,
die mir die Zeit genommen. Mein sind die Tage nicht, die noch wohl mögen
kommen. Der Augenblick ist mein. Und nehm ich den in Acht, so ist der mein,
der Zeit und Ewigkeit gemacht.�