Traugott Giesen Kolumne 08.07.2000 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Drei Monde in meinen Mokassins � Verstehen ist Leben
Alles, was die Neigung fördert den andern zu verstehen, ist ein
Segen. Ganze Wissenschaften sind dazu da, einander aufzuschliessen und
uns für einander verständlich zu machen. Dolmetscher übersetzen,
setzen also Sinn über in andere Sprache, die Werbeleute finden immer
neue Augenöffner, die Modeleute suchen neue enthüllende Hüllen.
Bücher, Filme, Zeitungen reichen den Stoff des Lebens dar, damit wir
ihn verstehen.
Es ist ein Hunger in uns, der rührt aus dem Chaos des Anfangs.
Wir wurden vertrieben aus dem Einssein mit Gott; vorbei auch die Zeit,
da wir ein Herz und eine Seele waren im Mutterleib. Die Unio war uns zu
eng, draussen ist es uns einsam. Seitdem ist unser Urschrei: �Keiner versteht
mich, letztlich ist man doch allein.�
Nächst dem Beschaffen von Essen und Trinken sind wir damit wir
damit beschäftigt, verstanden zu werden; oder uns zu verstecken. Es
ist ein ewiges Gewoge: sich zeigen und hinter sich zuschliessen; begrüssen
und weggehen; nachfragen und abbrechen; zuhören und genughaben; durchschauen
und Brett vorm Kopf. Dies Verschiedene ist oft gegenläufig und erschwert
das Einigsein. Aber beides gehört zu uns: das Verstecken und das Gefunden-werden-wollen.
Das gibt dem Kinderspiel die Würze: �Wer fürchtet sich vorm Schwarzen
Mann? Niemand! Und wenn er kommt? Dann laufen wir.� Lustvoll, zu entrinnen,
doch will man letztlich nicht ausgesetzt bleiben.
So wollen wir erkannt werden aber nicht vereinnahmt, wollen frei bleiben
und doch gewollt sein. Wir wollen bekannt sein und das informelle Selbstbestimmungsrecht
behalten. Wir wollen verstanden werden aber nicht dem andern durchsichtig
sein. Wir wären am liebsten geliebt. Die Liebe kann beides: Kennen
und freilassen, die Schwäche des andern wissen und sie behüten,
sie nicht benutzen. Kafka erzählt, wie jemand Zwei in inniger Umarmung
überrascht. Sofort entschuldigt der sich und zieht die Tür wieder
hinter sich zu mit den Worten: �Betrachten Sie mich als nicht vorhanden.�
Dies Verstehen aus der Sicht des anderen ist Menschenfreundschaft.
Verstehen heisst lateinisch Ratio. Und das bedeutet nicht nur Denken,
Überlegen und Verstand, sondern vor allem Teil, Rationen vom Wissen.
Sicher sind die Rationen verschieden gross aus Interesse, aus Bildung,
aus Not. Aber Anteil haben wir an dem gemeinsamem Wissen, dass niemand
eine Insel ist und �alle brauchen die Hilfe von allen� (Brecht).
�Um mich zu verstehen, musst du drei Monate in meinen Schuhen gegangen
sein.� Diese indianische Weisheit beschreibt, dass wir Respekt brauchen
vor der Andersartigkeit des anderen. Jeder hat seine Geschichte, seine
Wunden, seine Fenster der Freude. Mit einem eine Stunde gehen, ihm zuhören,
sich einfinden wollen in sein Kompliziertes, das ist schon viel. Einen
in aller Ruhe betrachten, begreifen, mit ihm sich auseinander denken und
wieder zusammen zu setzen, ihn erkennen und von ihm erkannt zu werden,
ist ein Wunder, ist ein Glück.