Traugott Giesen Kolumne 20.05.2000 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Du kannst dich leiden lernen
Du magst dich nicht, du willst dich nicht im Spiegel sehen, Selbstabschaffungsgedanken
jagen durch deinen Kopf, die Kinder verbitten sich Einmischung, Menschen
haben sich abgewandt von dir und du dich von ihnen. Du willst dich nicht,
und darum willst du auch die nicht, die dich noch wollen; sie können
dich ja gar nicht ernstlich wollen, weil, wenn sie dich kennten, sie sich
abwenden müssten, also denkst du, bleiben sie nur aus egoistischen
Gründen oder aus Mitleid. Und das willst du ja nicht. Du willst geliebt
sein.
Diese Sehnsucht ist dein Trumpf. Oft hast du dieses Wünschen zwar
vom Hals haben wollen, es hielt dich in Bewegung. Doch die Triebkraft dieses
Verlangens ist hochkarätig heilig, ist das Innigste deines Menschseins.
Letztlich werden wir hier nicht gestillt in unserm Begehren, geliebt zu
sein. Unser Hunger ist zu gross; wir haben füreinander zuwenig von
dieser Himmelsgabe, dieser Lust mit dem andern ein Ganzes zu bilden. Die
Ganzheit, von der wir ein Splitter sind, ist nicht ein einzelner Mensch,
auch nicht eine Menge davon, sondern eben das Ein-und-Alles, Gott genannt
oder Herz aller Dinge. So bleibt meine Seele unruhig in mir, bis sie ruht
in dir, Gott � sagte der Kirchenvater Augustin.
Vorläufig suchen wir bei einander Unterschlupf, suchen von den
Augen des andern abzulesen das Wohlwollen: Gut, dass du da bist. Wir sind
einander Pfand, dem Guten nicht verloren zu sein. Liebend sind wir, was
eine Schutzhütte in den Bergen ist, Rettung vorm Verlorengehen. Und
wir wollen auch vom andern gelesen werden als Versprechen: ja nimm mein
Wort oder meine Zigarette oder meinen Job oder meine Einladung als Wink:
Das Grosse-Ganze ist mit dir einverstanden.
Also nimm dein Geliebtseinwollen und dein Lieben, so schlicht es auch
sei, als Sternenstaub, als Übung, als Anbruch von Ewigem. Und lieb
dich, verwirf dich nicht. Du hast dich nicht erschaffen � du bist letztlich
dir aufgegeben. Es ist nicht leicht, du zu sein. Sei stolz darauf, du bist
gewollt, du bist eine gute Investition ins Leben. Deine Begabungen, deine
Wahrnehmelust, dein Danksinnigsein sind lebenswichtig.
Also, wenn du traurig sein musst, geh zügig durch, nimm deine
Auszeit. Auch wenn du es aktuell nicht denkst, weisst du doch, dass auch
dieser Tunnel ein Ende hat und leuchtendes Land vor dir liegt. Du hast
als Pfand deine Sehnsucht. Und wenn die auch nur einem glimmenden Docht
gleicht, wird Wind des Mutes und des Trostes dich wieder entfachen.
Dein Ich ist noch im Werden. Du darfst noch dein Drehbuch mitschreiben.
Hör auf, dich runterzumachen, dich klein zu reden, dich zu verachten.
Es ist so billig und führt zu nichts. Es soll nur dein Versagen entschuldigen.
Aber du taugst doch. Du bist ein Schatz, du bist im Kommen, bist noch im
Werden. Und denk mal � vielleicht brauchst du weniger die Lösung deiner
Probleme und mehr Glauben, dass sie gelöst worden sind (G. Dàvila).