Traugott Giesen Kolumne 13.05.2000 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Sechzig geworden
Mein Vater wurde zweiundsechzig; klar, der Krieg; er kam schlohweiss
mit 36 nach Hause, später drei Herzinfarkte. Ich habe niedrigen Blutdruck
und wohl gerade noch pünktlich das Rauchen aufgegeben. Gern würde
ich alt. Verräterisch, dies Reden; als wäre ich noch jung. Dabei,
mit Kindern und Enkeln gesegnet, ist man denen so alt wie die Welt. Die
wirklich Jungen stehen in den Startlöchern, warten, dass man die Pfründe
freigibt.
25 Jahre Kind, Schüler, Student; 35 Jahre Verantwortlicher � das
macht doch das Erwachsensein aus. Tun und Lassen bewirken, viel besorgen
und abschätzen. Ob mit dem Wind gehen oder gegen den Wind kreuzen
� dauernd muss man abwägen, die Folgen bedenken. Für andere mitdenken,
in ihren Schuhen ein Stück mitgehen, Pastor sein, also pastoral care,
fürsorglich, freilassend, Probleme, vermeintliche Zwänge lockern.
Immer wieder weiten Horizont schaffen durch Unterscheiden: Hier das Faktum,
da die Bedeutung. Der Tatbestand etwa von Schulden, Verrat, Mobbing ist
das Eine; was das jetzt dir bedeutet, ist ein Anderes. Allein schon dies
Auseinanderlegen gibt Freiraum. Wir müssen wenig und dürfen ganz
viel.
Der Beruf macht, dass ich Lebensläufe an ihren Schnittstellen
begleiten darf. Das rüttelt einen ziemlich, denn man ist mit in der
Küche, wo Schicksal zubereitet wird. Und Dolmetschen, was Geborenwerden
und Sichanvertrauen und Sterben sein kann, das ist sinnvoll. Wir Menschen
sind ja unheilbar religiös und darum gefährdet, Mummenschanz
für heilig zu halten. Glück und Fron zugleich ist mir das fast
ständige Nachdenken, ob und wie die Glaubensweisheiten der Menschheit
noch Leuchtkraft abstrahlen. Menschen einen Knust Christenmut mitgeben
� schon stark, wenn es gelingt.
Wichtig ist mir geworden: Alles hat seinen Preis und alles ist Gnade.
Will sagen: Man muss seine Begabungen zu Markte tragen, wir müssen
unsere Energie an den Acker des Willens Gottes drangeben. Die Mühen
lassen sich nicht zwischen weichen Kissen knacken. Das Leben will anständig
bedient sein, damit es uns nährt. Und doch ist alles Gnade, auch der
Fleiss, das Geschick. Sichriechenkönnen, Nützenkönnen, Gelöhntwerden.
Wunderbar, hier zu sein, man Selbst zu sein, und Schönes schön,
Gutes gut zu finden, die richtigen Dinge zu tun, die Dinge richtig zu tun
� das Gelingen des Lebens ist herrlich. Und am Allerbesten, das auch zu
merken. Und es braucht soviel Bewahrung, so viele Engel.
Drei Stabilitäten halten mich: Die des Ortes, die des Glaubens,
die der Ehe. Kurze Wege, viel Vertrautes, auf Reisen geht man am besten
innen. Glaube, Liebe, Hoffnung, klar � ein weites Feld mit viel Befreundung.
Und Ehe mit dem Lebensgesprächspartner. Dank auch ihm.
Wie weiter? Das Leben, scheints, kann einen noch brauchen. Wichtig
wird eine solide Krankenversicherung und eine hinreichende Rente. Immer
weniger massgeblich sein wollen. Neugier möge bleiben.