Keitumer Predigten Traugott Giesen
17.11.1999
Bußtag
Schaffe in mir Gott ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen
Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen
Geist nicht von mir (Psalm 51, 12 -13).
Erholung vom Sorgen ist uns gegönnt. Wir haben ja Mühe mit
dem Leben. Vielleicht einige lachende Erben nicht so sehr, aber durch die
Bank macht Leben Mühe und ist der Mühe wert. Je mehr wir zu Ordnung
und Anstand und Fleiß angehalten wurden, desto mehr müssen wir
uns regen.
Jetzt nicht mehr, weil von außen einmassiert, sondern weil wir
das wollen. Wir sind so zu wollen erzogen und sind jetzt selbst gern die
so Erzogenen. Darum sag auch weniger: �Ich muß noch, ich muß
noch� sondern mehr �ich will noch."
Sorgen, im Sinne von Besorgen ist unser Wille. Ein eigenes Haus, einige
Ferienwohnungen, ein Geschäft, das auch andern Arbeit gibt � das gibt
eine Menge Besorgungen auf. Nach einer Reihe von Ferientagen wollen wir
doch wieder zurück nach Haus und was bewegen; noch was um die Hacken
haben, macht Freude. Eben gern tun, was man tut, ist die beste Erholung
vom Sorgen mitten im Besorgen.
Glücklich dran ist, wer begabt ist, sein Besorgen geschickt zu
betreiben. Fürs Naheliegende sind wir meist scharfsichtig. Und je
älter wir sind, desto kompetenter sind wir, gerade mit uns klarzukommen.
Altgeworden sind wir doch geradezu weil unser Gefühlshaushalt und
Kräftehaushalt im Lot ist. Haben wir unser Gleichgewicht gefunden
von Nehmen und Geben? Nach außen gehen und in mich gehen? Leisten
und mir gönnen? Sorgen und sorglos sein?
Gerade dieses Gegensatzpaar ist wohl unsere besondere Aufmerksamkeit
wert. Wir sollen uns kümmern, sollen arbeiten, damit wir was haben,
um auch abgeben zu können (Epheser 4, 28). Wie wichtig das ist, das
schärft Jesus ja ein: �Ich war hungrig gewesen, und ihr habt mich
gesättigt, ich war krank gewesen und ihr habt mich besucht. Was ihr
getan und nicht getan habt meinen geringsten Brüdern und Schwestern,
das habt ihr mir getan oder auch mir vorenthalten (Matthäus 25, 40).
Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn
Gott ist es, der in euch ausrichtete das Wollen und Vollbringen (Philipper
2, 12f).
Das eröffnet den Blick auf die andere Seite des Gegensatzpaares
Jesus: Sorget nicht! um eure Lebensdauer (Matthäus 6, 25), nicht für
morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen (34), nicht,
was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden (10,
19).
�Alle Sorge werfet auf ihn, denn er sorget für euch� (1. Petrus
5, 7)
Sorgt euch um nichts, nur: eure Güte laßt merken alle Menschen
(Philipper 4, 5f)
Sorgen � nicht sorgen: Besorgt � dann erhole dich vom Sorgen durch
Sorge loslassen. Wie Sorge loslassen: Es ist genug, daß jeder Tag
seine eigene Plage habe � nicht heute schon die Arbeit von morgen tun,
nicht heute die Arbeit von gestern wiederkäuen. � Im Grämen schleppen
wir das Vergangene mit und packen das Heute damit voll. Im Fürchten
nehmen wir die künftigen Gefahren vorweg, und verdüstern Heute.
Nein, Heute: Tag des Herrn; Heute gut, das zu besorgen, was dran ist und
Sorge loslassen. � Auch gut schlafen. Den Seinen gibt�s der Herr im Schlaf
�
Und genießen können, sich dem Genuß überlassen.
Auch sich genüßlich zurückzulehnen, die Hände im Schoß.
Feierabend, Lebensabend.
Jesus lockt uns zeitweilig in Selbstvergessenheit: sehet die Lilien,
sehet die Vögel, � daß wir unser Selbst treiben lassen über
uns hinaus. Mal das kleinliche, argwöhnische Bewachen lassen, mein
Ich käme mir abhanden.
Sich Verströmen können ist geradezu eine Gnade: In der Musik,
in Kindern, in Gärten. Begeistert sein für Schönes, hinübersetzen
in ein anderes Sein; die liebende Umarmung ist ja eine feurige Flamme des
Herrn (Hohelied 8, 6), die alles Erstarrte einschmilzt. Aber auch dies
Strömen braucht ein Wiegen von Nahsein und Fernsein. Sich halten und
sich lassen � den Rhythmus von Einssein und Getrenntsein � ein schönes
Verhältnis eben. Jesus konnte verzückt sein, daß er Tage
nichts aß und sich im Himmel wähnte und die wilden Tiere, also
die Gieren, sie dienten ihm. Und dann wieder an die Arbeit, zu den Menschen,
zum Entscheiden und Besorgen.
Ein besonderes Sorgen und Loskommen von Sorgen hat mit Schuld und Vergebung
zu tun. Innerstes Sorgen machen wir uns, wenn wir Schuld auf uns laden.
Aber wir sind fürs Schuldlos-sein nicht gemacht. Und �Gewährenlassen
ist zehnmal gefährlicher als Tun� (R. Musil). Wir profitieren davon,
daß die DM stark ist, und trinken Kaffee und essen Schokolade, deren
Pflanzer und Pflücker nur 20 Pfennig Stundenlohn erhalten. Wieviel
Zustände in Staat und Gesellschaft sind unhaltbar und � wann habe
ich den letzten Leserbrief geschrieben oder für einen in Not mich
verwendet? Mich kundig gemacht über Einsamkeit im Altenheim? � Und
einfach hingehen, wieder mal hingehen.
Gewiß, wir sind nicht fürs Schuldlos-sein gemacht.
Der weise Elias Canetti: �Man muß sich, um leben zu können,
mancherlei Unrechts bewußt sein; einiges davon muß bereits
begangen und abgeschlossen sein, anderes, das offen ist, muß man
immer noch begehen. Die Summe an Unrecht, die sich aus beidem ergibt, darf
weder zu groß noch zu klein sein. Ein Heiliger muß sich künstliche
Sünden erfinden. Wer sich ehrlich sagen kann: ich habe nichts Böses
getan, ist verloren. Denn das Böse ist da und hat Anspruch, und nicht
umsonst hat es der Glaube an eine Erbsünde zu solchem Ansehen gebracht."
Eine Konfirmandin, gefragt warum sie dauernd quasselt: �Dann fühle
ich mich. Beim Zuhören fühl ich mich tot.� �Aber meinst du nicht,
du könntest was Wichtiges bekommen, was empfangen?� �Ich hätte
es schon nötig. � Aber mir das zu gestehen, daß ich arm im Kopp
bin, dazu muß man was im Kopp haben.�
Auf einmal hatte ich ein ziemliches Mitleid. Das ist doch der Punkt,
warum wir uns verfehlen. Unser Schicksal im Stich lassen � wir wissen nicht,
was wir tun. Das kleine Verschontsein, den guten Ruf wahren, wir geben
die große Freude hin, verraten uns; allein, wie die deutschen Firmeninhaber
und Aktienbesitzer sich tot stellen bei dem Ruf, endlich die Zwangsarbeiter
etwas zu entschädigen � ach es ist ein Jammer � und unser Staat meint,
einen Buß- und Bettag könnte man streichen. �
Wie von Schuld loskommen?
�Wer sich groß verfehlt, hat auch große Quellen der Reinigung
in sich� (Christian Morgenstern). Schuld fühlen, wissen, es anders
machen wollen, es wieder gut machen wollen. Es vor Gott wissen. Also mich
so sehen, wie ich gemeint bin: Wissen, daß Gott weiß. Dann
kann ich wieder an die Arbeit gehen, gehalten von guten Mächten, wunderbar
geborgen. Dir sind deine Sünden vergeben, sagt Jesus. � Vor dir Weite,
zu werden, der du werden kannst in den Umständen, mit dem Temperament,
mit der Melodie im Wesen. Gott wirft deine Sünden hinter sich zurück.
Also ran ans Leben, dies ist der Tag, den der Herr macht. Mit dir, geliebt,
gebraucht. Amen.