Keitumer Predigten Traugott Giesen
30.05.1999
Matth.-Ev. 6, 22. Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge
lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.
Markus-Ev. 8, 22 -26. Und Jesus und seine Jünger kamen nach Betsaida.
Und sie brachten zu ihm einen Blinden und flehten ihn an, daß er
ihn berühre.
Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor
das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn
und fragte ihn: Siehst du schon etwas?
Und eben wieder sehend, sprach er: Ich sehe Menschen, schwankenden
Bäumen gleich umhergehen.
Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er
deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, so daß er alles scharf
sehen konnte.
Und er schickte ihn heim.
Das morgendliche Aufstehen, das Öffnen der Rolläden, der Vorhänge
� Morgenlicht leuchtet. Und wir sind Zeugen, das Sonnenlicht flutet ins
Zimmer, gibt den Gegenständen ihr Sein, umspielt sie mit Schein, glänzt
auf den Gläsern, spiegelt sich in Böden und Fliesen. V. Ditfurth
sagt: �Wenn die Sonne aufgeht, ergießt sich eine Flut elektromagnetischer
Wellen über die Erde. Erst unser Auge registriert dies als Licht,
erst im Gehirn entsteht der Eindruck von Helligkeit.� Mit andern Worten:
Ohne Lebewesen wäre es dunkel. Dabei ist es nur ein winziger Ausschnitt
aus der Sonnenstrahlung, den wir wahrnehmen. Der weitaus größte
Teil bleibt für uns unsichtbar. Genau eingestellt ist die Optik unseres
Auges auf das Spektrum des Tageslichtes. � Ohne Augen kein Licht, jedenfalls
keine Wahrnehmung von Licht. Ohne Menschen keine Wahrnehmung der Wunder
Gottes. Gott will gemerkt werden, sein Licht will gesehen sein. Ohne Augen
ist der Mensch als Mensch nicht zu denken. Also baut sich Gott mittels
Licht das Instrument seiner Wahrnehmung?
�In gewissem Sinne sind alle Organe der Bewegung und Wahrnehmung wie
ein Abbild der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen� (Drewermann). Die
Flossen eines Fisches sind ein Abdruck der Strömung des Wassers. Unsere
Augen entsprechen dem fließenden Licht, sie sind zum Sehen in eben
dieser Strahlung entwickelt und daher ja, �sonnenhaft� gebaut.
Goethe: �Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es
nie erblicken. Läg nicht in uns des Gottes eigene Kraft, wie könnt
uns Göttliches entzücken.�
Sonnenhungrig ist unser Auge und unser ganzes Leben. �Das Auge ist
des Leibes Licht� könnte meinen: Das Auge beschafft dem Leib das Licht.
Schiller beschreibt die Qual erblindeter Augen: �wenn die gesamte Welt
in ewiger Nacht versinkt.� � Das gilt nicht nur körperlich sondern
auch seelisch. Es ist uns möglich, die gesamte Wirklichkeit in Finsternis
zu tauchen: Mißgunst, Geiz, Habgier, Neid � wir streichen die Wirklichkeit
schwarz an. Eine Verdunkelung, eine Seelenverfinsterung kann über
einem sein � vielleicht, weil von früh an ein anderer Mensch einen
Schatten über ihn geworfen hat, er sich von früh an in den Schatten
gestellt sieht?
All das soll mitbedacht sein, wenn wir uns Jesu Heilung des Blinden
nähern. Ein Mensch findet durch Berührung des Jesus sein Augenlicht
wieder. Eigentümlich � dies Absondern, dann die �Speichelsalbung�
(ein herrliches Wort von Eugen Drewermann).
Was muß geschehen, innerlich, um Blinde sehend zu machen?
Schmerz vereinsamt, aber Mutters �Heile, heile Segen� tat so gut. Ihr
Pusten, ihre Spucke und Pusten � da war man nah aneinander, das bescherte
das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Und die Erwartung des Kindes an
Mutter, des Kranken an den Arzt/die Ärztin geben diesen Personen ja
einen Bonus, unsere Erwartung macht ihre Berufung: daß durch diesen
Menschen Heilung in Fluß komme.
Auch Jesus nimmt in Schutz. Das Streicheln hebt den andern in eine
gemeinsame Umhüllung, Wärme und Feuchtigkeit setzen wieder über
zu den Gestaden der Kindheit, des Babys im Mutterleib vielleicht; wieder,
noch einmal unbedroht und unbezweifelt, unbeargwöhnt sein, das ist
geliebt sein.
Es gibt Jammer, da kann man nicht nach gucken, da schlägt man
die Hände überm Kopf zusammen � Munks Schrei zeigt Hände
auf den Ohren. In Michelangelos Jüngstem Gericht starrt ein Auge voll
Irregewordensein am Geschauten, das andere Auge ist von der Hand bedeckt.
Auch Kinder halten sich die Augen zu, in der Hoffnung vom Schrecklichen
nicht gewahrt zu werden. �
Welche Wahrheit ist �eingefroren� (Drewermann) in der aufgezwungenen
seelischen Blindheit? Nicht sehen was erniedrigt, ist eine hilflose Eigentherapie:
ich will nicht mehr sehen, was mich schändet, will übersehen
die Erniedrigung? Das Nichtmerken und Abspalten eigener Schuld, Selbstbetäubung
nennt man das. Jeder kann das mit eigenem Erleben füllen.
Und jetzt zum Heilen. Jesus macht es vor: Er holt den Menschen erst
mal aus seiner blindmachenden Umgebung raus; aus der Konstellation, die
ihm nur den Notausgang ließ, sich tot, blind zu stellen. Er besorgte
sich ja Sicherheit, indem er die nicht mehr sah, die, von denen er meinte,
daß sie ihn mit Blicken durchbohrten und aufspießten.
�Der Blinde muß unbedingt als erstes von dem Gefühl befreit
werden, unablässig von den Augen aller fixiert und kontrolliert zu
werden, sonst kann er ihnen nicht in die Augen schauen, kann die seinen
nicht aufmachen� (Drewermann).
Jesus zieht ihn außer Gefecht, vors Dorf, dahin, wo die Phobie,
sich wehren zu müssen, nachläßt. Der Druck des bedrohlichen
Meinens läßt da nach. Jesus schenkt ihm wieder das Tastgefühl
des Geborgenseins, das Streicheln und Bestreichen mit Spucke wie Salbe.
Das bringt in Sicherheit, zieht aus dem Rachen der Selbstzweifel. � Ja,
es ist nicht länger schlimm, angesehen zu werden. Der Blinde lernt
an Jesus das Geschautwerden nicht nur zu ertragen, sondern sieht sich gern
gesehen, wahrgenommen, ja nimmt vom Angeschautwerden wieder neu den Schein
des Beachtlichseins. Eine wunderbare Selbstbewußtseins-Vermehrung
setzt Jesus neu in Gang. �
Der Mund des Gastes macht den Wein gut (M. Walser). � Die Erwartung
des Kindes schießt der Mutter die Milch ein. Dein Zutrauen, in mir
könne ein heilendes Wort dich treffen, legt mir doch das heilende
Wort bei.
Ein mitfühlender Mensch genügt, ein Schauen genügt,
daß die Blindheit sich lichte und langsam das Vertrauen wiederkehrt.
Herrlich, wie Jesus noch mal nachlegt � siehst du schon? �Ja, schwankende
Gestalten�. Er legt erneut die Hände auf seine Augen. Das richtige
Sehen stellt sich ein bei weiterer Handauflegung, weiterer, neuer befreiender
Nähe.
Damit bereitet doch Jesus seine Jünger, uns, zu als Mithelfer.
Er will gerade nicht der einsame, einmalige Wunderheiler sein, sondern,
so im Johannes-Ev. �Ihr werdet größere Wunder tun�. Jesus eröffnet
uns, daß wir Schwierigen einander gute Gabe geben können. Jesus
stiftet uns an, heilsam miteinander zu sein. �
Ein bedenkenswerter Hinweis von Drewermann am Rande: Der Kranke sieht
zunächst ja Menschen �wie Bäume� � was mag das bedeuten? Bäume
haben ja in der Traumsprache etwas Mütterliches, Schützendes,
Festes, Haltgebendes, auch Unindividuelles. Menschen wie Bäume, das
ist ein Stück naturhaftes, nicht ganz und gar einzig Persönliches.
Die Heilung beginnt mit Menschen, die sanft mit mir umgehen, ohne sofort
ein Leben zu teilen oder alles von mir wissen.
Jesus gibt dem Blinden mit der Gebärde des Streichens doch das
Mütterliche Gottes, des Lebens, zurück � er will wohl gar nicht
als der Jesus, genau dieser, wahrgenommen werden, sondern eher als die
gestaltgewordene mütterlich schützende Vertrauenswürdigkeit
des Lebendigen, jetzt.
Die Scharfeinstellung des neuen Sehen kommt im zweiten Heilschritt.
Jesus schickt ihn nach Hause � dahin, wo er sehr persönlich, einzig
ist und gemeint ist � schickt ihn zu den Menschen, bei denen er wieder
lernen will, sich Zuhaus zu fühlen. Später dann soll er ins Dorf,
zu den ganzen anderen. �
Einmal heißt es von Jesus: Das Licht kam in die Finsternis. Die
ihn annahmen, denen gab er Macht, sich als Kinder Gottes zu erkennen (Johannes-Ev.
1, 5, 12). Erhellend nehmen sie sich wahr. Ihre Augen schütten wenig
Geringschätzung aus, eher liebkosen sie, was sie betrachten mit Ehrerbietung
und Beharrlichkeit. Eins im andern die Flamme Lebendiges wahrnehmen. Nicht
das kleinliche und verkleinernde Enge ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist
in aller Entstellung das Teilhaben an der unerschöpflichen Kraft des
Lebens (Zitiert aus: E. Drewermann, Markus. Matthäus). Amen.