Predigt 9. November 1997
Keitumer Predigten Traugott Giesen 09.11.1997
Seid klug und ohne Falsch (Matthäus-Ev. 10, 16)
Eine der vier antiken Kardinalstugenden neben: Tapferkeit, Mäßigung,
Gerechtigkeit ist die Klugheit. Jesus gebietet sie als Christenpflicht.
Vielleicht kommt das deutsche Wort aus dem germanischen kloka - glatt und
beweglich wie eine Kugel. Die Kugel ist sicher die angepaßteste Form
in der Natur, Jesus sagt ja "klug wie die Schlangen", die sich dem Untergrund
anpassen und nicht sich über die Unebenheiten beschweren. - Klug meint
also: wissen, was zum Leben paßt; sei klug meint: gib dem Leben, was
es braucht, damit es dir gut sein kann.
Also auch die Fertigkeiten lernen: einen Schritt vor den andern setzen, eine
Hand für den Mann, eine Hand für das Boot, Versprechen einzuhalten,
Geliehenes pünktlich und ordentlich zurückzugeben, Fahrrad flicken
zu können.
Wir sollen geschickt sein, lebenstauglich, aber ohne Falsch: also nicht gerissen,
listig; wir sollen nicht mit falscher Ware oder Handel oder gefälschten
Gedanken etwas an uns bringen (nach Martin Luther).
Jesus verpflichtet uns geradezu, gewinnbringend zu wirken, die Talente zu
nutzen; den Petrus, der die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen hat,
schickt er noch mal los. Jesus möchte uns wirksam, aber eben ohne Falsch.
Und die Schwalbe des Stürmers, das vorgetäuschte Foul ist eben
falsch; und Pfusch am Bau ist falsch; und Erschleichen von sozialer Güte
ist auch falsch.
Klugheit nimmt Rücksicht auf die Folgen.
Ein aufgebrachter Nachbar mit Knüppel wummert an die Tür, verlangt
seine Frau, die sich bei euch in Sicherheit gebracht hat. Mußt du ehrlich
sagen, wo sie ist? Wahrhaftigkeit ohne Rücksicht auf die Folgen sei
höchste Pflicht, so Kant. Dagegen steht das Gebot der Klugheit. Es ist
nicht das wichtigste, daß du in deinem Gewissen rein dastehst,
buchstabengetreu nicht gelogen hast. Sondern du bist verantwortlich für
die Folgen deines Tuns (Max Weber). Es reicht nicht, daß du mit dir
übereins bist, du haftest, was daraus wird. Und sicher die Hälfte
alles Bösen nimmt Ausgang bei guter Absicht und versucht sich nachher
zu entschuldigen: Das wollte ich nicht; ich hab es doch nur gut gemeint.
-
Klugheit ist mehr, als es gut zu meinen. Klugheit beurteilt richtig, was
gut oder schlecht ist in dieser Situation. Klugheit ist nicht alles, aber
ohne Klugheit sind alle andern Tugenden arm dran. Klugheit sucht das
Wißbare zu wissen und wendet es an. Sie entscheidet, stellt die Rangfolge
fest, was gut ist für mich und von mir, in Respekt vor dem Anderen und
dem Umfeld.
Klug abwägen welche Wünsche was bringen - den Wert wissen und die
Kosten; die Mühen der Vergnügen ausloten; vor dem Hausbau auf den
Untergrund achten; vor dem Gang zu Gericht die gütliche Einigung versuchen;
vor dem Streit die Argumente wägen. Andere nicht für dumm halten.
Klugheit bedenkt die Zukunft, die Folgen, die Chancen, trifft Vorsorge,
haushaltet mit der Geduld anderer, pflegt gute Nachbarschaft, sieht die Zeichen,
achtet, merkt auf, ist wach, sieht sich vor und schaut in den Rückspiegel,
paßt auf den richtigen Zeitpunkt, paßt den "Kairos" ab.
Es der Mühe wert halten zu merken, was an der Zeit ist, was recht ist
(Lukas 12, 57), wofür die Zeit reif ist, wofür Gott mich will,
das ist klug. Die Gunst der Stunde erspüren - "Alles hat seine Zeit,
alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde" (Prediger 3). -
Auch Wahrheit hat ihre Zeit und ist zur falschen Zeit nur ehrliche Gewalttat;
auch Güte zur falschen Zeit verführt, zu schnelles Beispringen
lähmt. In der Erziehung: zu wenig Liebe ist Raub, zuviel blinde Liebe
ist Mord (Ruth C. Kohn). Klugheit schaut voraus - wo Tiere Instinkt haben,
sollten wir Klugheit walten lassen.
Das ist auch Vermeiden von Gefahren, aber Klugheit hilft erst recht dem Mut,
das Richtige anzupacken inklusiv der Risiken. Klugheit liebt hellsichtig,
nach vorn denkend und fühlend. Sie will auch Macht, will Vermögen
um verantwortlich zu handeln, vornan die Natur zu schützen:
Der alternative Nobelpreisträger Michael Succow sagt: "Unsere
Hochzivilisation mit ihrer Raffgier kann nur bestehen, indem sie Natur verbraucht
und halbe Länder zu Geld macht. Wer am schnellsten, am billigsten, am
primitivsten etwas erzeugt und die ökologischen und sozialen Folgen
ignoriert, der ist der Erfolgreichste: der läßt z.B. in Jakutien
Rodungsmaschinen wie Panzer durch die Wälder graben, läßt
das Holz dann um die halbe Welt schippern, um es in Deutschland schließlich
zu Zeitungspapier zu machen, weil das angeblich billiger ist. - Die
Funktionstüchtigkeit der Natur zu erhalten ist die bedeutendste
Sozialleistung für die Zukunft. Sonst gibt es um die letzten noch intakten
Stückchen Natur Mord und Totschlag. Und wir haben nicht mehr viel Zeit."
Scharfsichtigkeit für den eigenen Nutzen ist oft gepaart mit Blindheit
fürs Ganze. Lust gewinnen, Leid vermeiden - das ist uns als Antrieb
mitgegeben. Aber ich bin nicht das Ganze, ich bin Teil eines guten Ganzen,
ich muß dies im Blick behalten: "was nützte es, die ganze Welt
zu gewinnen und doch beschädigt zu werden an der eigenen Seele?"
(Matthäus-Ev. 16, 26). Billionen Mark schwappen von einer lukrativen
Anlage zur andern; Energien, die Arbeit beschaffen, Nahrung, Fortschritt
und Zerstörung - aber wenn die Gelder abgezogen werden, hinterlassen
sie Pleiten und Schließungen, wird Menschen ihre Arbeit nicht mehr
bezahlt. Jeder, der Geld auf die Bank tut oder in Aktien anlegt, vermehrt
diese anonyme Geldmacht, - die kaum noch zu bändigen ist. Der Auftrag
zu Klugheit ohne Falsch fordert auch, meine Zahlungsfähigkeit in
lebensfördernde Projekte anzulegen. Klar, die hohen Renditen werden
erzielt mit Naturausbeutung - Holz aus Jakutien, Öl aus Nigeria, Strom
aus Atom, - zurück bleibt verbrannte, verseuchte Erde und strahlender
Müll. Inzwischen legen Banken auch Ethik-Fonds auf, allen voran die
Ökumenische Entwicklungsbank. Die verzinst die Einlagen nur mit der
Inflationsrate, weil sie das Geld ausleihen für Existenzgründungen
- für Frauen, die mit einer Nähmaschine anfangen, oder für
Brunnenbau. Klugheit achtet auf die Mittel, wie und was mit meinem Geld gemacht
wird. Es hat keinen Sinn mehr, letztlich nur das Erbe zu mehren auf Kosten
eben der nächsten Generation. Die Enkel, denen wir ein dickes Konto
hinterlassen, werden uns fragen, wo der Urwald ist, werden fragen, warum
wir nicht Urwald gekauft haben, daß er unberührt bleiben kann,
was er immer war.
Klug und ohne Falsch - das kommt nahe dem: "Ihr sollt vollkommen sein, wie
euer himmlischer Vater vollkommen ist" (Matthäus-Ev. 5, 48). - Vollkommen
im Sinne von ganz, von unzerrissen, im Frieden mit allem, nicht mehr zwischen
zwei Stühlen.
"Ohne Falsch" heißt im Urtext: ohne Verunreinigung - reines Herzens.
-
Rein - unrein; das reicht tief ins Seelische: Wo Geschlechtliches erzwungen
wurde, läßt Gewalt das Gespür von Besudelung zurück,
von Ekel. Und wer demütigt, wer erniedrigt, will verunreinigen, will
auf sein Niveau herunterziehen. Jesus prangert das verkehrte Wesen an: "Von
außen scheint ihr fromm, aber innen seid ihr voll Heuchelei und Unrecht"
(Matthäus-Ev. 23, 28).
Reine Lust ist darin rein, daß sie erhebt, teilt, begeistert, Ganzheit
bewirkt, das Geteilte, das Pseudohafte hinweghebt, Frieden schafft.
Paulus ist da erhellend: "Den Reinen ist alles rein" (Titus 1, 15); "nichts
ist unrein von sich aus. Nur für den, der es für unrein hält,
ist es unrein. und wer z.B. mit schlechtem Gewissen ißt, weil er meint,
es könne Götzenopferfleisch sein, der schadet sich" (Römerbrief
14, 14, 20). "Nichts ist verwerflich, was mit Dank an Gott empfangen wird"
(1. Timotheus 4, 4). "Aber was nicht im Glauben empfangen wird, ist Sünde"
( Römerbrief 14, 23).
Der Unreine sieht überall Böses, Reinheit sieht das Böse nicht,
wo es in Wirklichkeit nicht ist (André Comte-Sponville). Also nicht
alles sofort auf mich beziehen, nicht Verschwörung gegen mich annehmen,
Zeichen lesen mit wenig Argwohn: das Unhöfliche kann auch
Vergeßlichkeit sein. Die reines Herzens nehmen erst mal an: der will
mir nicht böse. Wahre Unreinheit z. B. in der Liebe ist Besitzenwollen,
Nähe erzwingen, Kontrolle üben, unter Druck setzen; unrein ist
eine Eifersucht, die nur mit mir dir Glück erlaubt. "Sei auf der Hut"
(Baruch Spinoza), auch vor Moralforderern, die im Namen der Pflichten und
Tugenden die Toleranz niedertreten.
Reines Herzens mit Klugheit! Rechtschaffen sein allein genügt nicht;
nur redlich sein ohne Klugheit ist nah an Torheit; nur klug, bis zum
klügeln, ist nah bei unlebendigem Horten. Lieben, klug und ohne Falsch
ist Lernstoff lebenslang. Amen.