Predigt 8. Februar 2004
Keitumer Predigten Traugott Giesen 08.02.2004
Lazarus, geh an dein Leben!
Johannes 11
Es lag aber einer krank in Betanien, Lazarus, bei seinen Schwestern Maria
und Martha. Alle drei hatte Jesus lieb. Die Schwestern schickten zu Jesus
und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.Als
Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern
zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde.
Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe hin, ihn aufzuwecken.
Es waren aber zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres
Bruders. Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen:
und sagt ihm: Lazarus ist schon gestorben, vor vier Tagen. Ach Herr, wärst
du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber auch jetzt
weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.
Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. Marta spricht zu ihm:
Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird - bei der Auferstehung am
Jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das
Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; eigentlich:
wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?
Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der
Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.
Maria und die Nachbarn weinten sehr. Auch sie klagte: Herr, wärst du
hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Da ergrimmte Jesus im
Geist und wurde sehr betrübt. Und er kam zum Grabe. Es war aber eine
Höhle und ein Stein lag davor. Jesus sprach: Hebt den Stein weg! Spricht
zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er riecht schon; denn
er liegt seit vier Tagen. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt:
Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? Jesus aber hob seine
Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhörst. Ich
weiß, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen,
das umhersteht, sage ich's laut, damit sie glauben ( dass du mich gesandt
hast). Und rief mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus!
Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an
Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit
einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und
lasst ihn gehen! Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und
sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn. Andere zeigten ihn an bei den
Gottesgelehrte, denen schien es ein todeswürdiges Ärgernis.
Eigentlich löst Christenwissen ein Gefühlsbeben aus, aber auch
die gewaltigsten Bilder scheinen stumpf geworden. Eins ist das von der
Auferstehung des Lazarus. Versuchen wir, die Sensation noch mal zu merken.
Jesus ist das Licht, das Leben, das Brot, der Weinstock, ist die Auferstehung.
Von ihm angerührt, ihm nach bricht unsere richtiges Leben an, das nicht
zerklirrt am Tod; wir bleiben im Hause des Herrn. Wir leben, ob wir gleich
stürben. Unser Lebensrinnsal wird ein Strom, der mündet nicht in
ein Grab, sondern in der Liebe.
Erfahrungen der Liebe sind auf Erden brüchig, aber sie machen uns schon
hier reich und reif: was nicht aus Liebe ist, ist Erstarrung. Auferstehung
jetzt ist Lösen der Starre, neu das andere, den anderen befreundet
spüren, mit dem anderen teilen, Arbeit und Brot, Atem und Haut, Haus
und Wissen, Fühlen und Versagen - teilen, das ist Leben, auch wenn wir
zwischendurch Abschied nehmen, enttäuschen, hinfallen, sterben. Also
das biologische Sterben als Satzwechsel, als Szenenwechsel als Umzug im Sein
mit Gott - Exitus - Ausgang in den Ballsaal der Freude, nicht so wichtig
diese Schwelle. Darum kommt Jesus nicht vor der Schwelle, diese
hinauszuzögern, sondern er nimmt das Sterben als ein Verschüttgehen,
als eine Erstarrung, aus der Gott herausruft. Die Lazarusgeschichte als
großes Bild für das Wissen: Des Lebens Ruf an uns wird niemals
enden. Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde (Hesse).
Die Liebe, das Leben, der Tod, das Leben, die Liebe - merkwürdig hin
und her pendelt, was Lazarus widerfährt: Er wird sterben, und doch ist
es keine Krankheit zum Tode, sagt Jesus. Jesus scheint gewartet zu haben,
als wollte er gegen den biologischen Tod nichts ausrichten. Verherrlicht
wird Gott und der Sohn, und mit dem Sohn auch wir Geschwister: "es wird uns
auch die Todesstunde neuen Räumen neu entgegensenden". Es gilt etwas
zu wissen, was über das irdische Leben weit hinausreicht.
Martha kommt ihm entgegen: zu spät, zu spät! Jesus kam extra zu
spät, weil er den natürlichen Fluß nicht aufhalten wollte
und konnte. Die Tröstungen, die menschlichen, überlässt er
anderen, Zuspruch bringt er nicht. Damit wir das Licht Christi sehen
lässt er zwei Tage im gar-nichts-tun dahindämmern (E.
Drewermann). Nicht das sterbliche Leben verlängern, sondern sondern
das Leben verlängern über das Sterbliche hinaus. Das ist was anderes,
als die Auferstehung dermaleinst zu erhoffen. Auferstehung jetzt ist Teilhaben
am unvergänglichen Jetzt: "Wer auf mich vertraut, selbst wenn er stirbt,
der wird leben."- Es gibt gar keinen Tod für den der glaubt. "Das, was
wir sind, kann und wird uns niemand rauben, jetzt aufwachen, jetzt durch
die Todesangst schreiten, jetzt durch den Tod gehen, durch die Kränkungen
und Abschiede und nötigen Verzichte, jetzt für Lebenkönnen
anderer Kraft hingeben, - ach ja, 'weck die tote Christenheit', jetzt Sorgen
und Grämen abstreifen, jetzt den gewaltsamen Tod des andern nicht
inkaufnehmen."
Jesus, das zur Sonne geworden Leuchten Gottes, das Gestalt gewordene erleuchtete
Leben, vom Tod umfangen und siehe wir leben! Der Himmel findet schon zu uns,
küsst die Erde, in diesem Menschen und in Menschen, die ihm ähnlich
sind. Das Bild des Jesus: vom Himmel gekommen, aus Gott gekommen, meint ja-
Himmel bringt er mit, Gottes Energie flößt er uns ein, - auch
im Umgang mit dem Tod. Im Bild: Er sagt zu Gott: "Wegen mir kann der Leib
des Lazarus Erde zu Erde werden. Aber das Volk muss Deine Verwandelkraft
sehen, lass dich darauf ein". Und er ruft: Lazarus komm heraus. Ein schwieriges
Bild.
Was wurde? Einige gelangten zum Vertrauen zu ihm. Und lebten ihr auferwecktes
Leben. Andere teilten eine Sensation mit, und die Gotteswächter sahen
Gotteslästerung im Spiel.
Jesus und wir, die wir einander anleiten, um aus dem Begrabensein zum Leben
zu kommen - etwa wie im Chor das einzelne Stimmlein erfasst wird von einem
Glücksschwall und zur großen Stimme sich aufschwingt, wir, die
die Bindungen und Fesselungen abschütteln, den Geruch von Verwesung
austreiben. Bewußt leben: nicht die Schöpfung leise ersticken
machen, sondern mitfühlen mit der Kreatur, nicht das Hungern und Frieren
von Mitmenschen in Kauf nehmen, sondern die Phantasie des Mitleidens blühen
lassen. Sich vor Lebendigem in Sicherheit bringen ist schon Sterben; wir
müssen Verwandlung wollen, Stillstand ist der Tod, gepanzert durch
Privilegien und Beziehungen. Das stinkt schon gewaltig.
Lazarus komm heraus! sagt die Ursache zum Leben. Komm heraus;
aus deinem Gruftdasein, auf die Gunst eines Menschen zu lauern: komm heraus
aus dem Gehege Deiner Abhängigkeiten, komm heraus aus deinem
Verdämmern, Beschuldigen, Vernachlässigen deinerselbst. Lass ab
vom Zertreten deiner Gefühle, aufersteh zu dir selbst.
Auferstehung ist die völlige Selbstfindung in Gott, in der Liebe, im
guten Zusammenhang. Aber warte nicht auf später, auf die Auferstehung
dermaleinst verschiebe nichts. Auch aus dem stinkigsten Leben kannst Du gerettet
werden. Und es ist kein Tod mehr vor Dir, nur das endgültige
Gefundenbleiben, ein endliches Heimkommen zu Dir. Vor dir: immer Heilung.
"Hinabgestiegen in das Reich des Todes, um dorthin Erlösung zu bringen"
- so das Glaubensbekenntnis von Jesus Christus. Hinabgestiegen in dein Leben,
um dir Erlösung zu bringen?
Ein weites Feld... Siehst du dich in verwahrloster Zeit? Komm heraus; rede
wieder über Glaubensdinge, kläre deine moralische Position, für
die du auch Opfer bringen willst. Steh zu deinen dir wichtigen Werten. Komm
heraus aus dem Sumpf des Beliebigen, bearbeite deine tiefvergrabenen
Glaubensreste.
Und Du aufersteh, steh auf zu einem unbegreiflichen Vertrauen zu dir selbst.
Doch vertraust du dann nicht dir, sondern dir in dem, der dich hält
und trägt. Du weißt dich in guter Behütung. und wenn es zum
letzten kommt, sprich zu Deiner Seele: "Sei still und lass das Dunkel über
dich kommen. Es wird das Dunkel Gottes sein" (T.S.Eliot).
Steh auf, erlebe dein Urvertrauen, wie sollst du es geschmeidig halten, wenn
du es nicht in Situationen bewährst. Erlebe dein Wissen vom Urvertrauen.
Du, die Wirklichkeit ist von einem Einzelnen (Gott) für einen Einzelnen.
Mit dir steht und fällt ein sinnvolles Leben, du steh auf, steh zu
Sinnvollem und Sinnstiftendem auf. Und steh auf zu deiner Mühe, zu deiner
dir nötigen Mühe. Du brauchst die Mühe, sie braucht dich.
Sie muss getragen werden, um zu Verwandlung zu kommen.
Lazarus steht nicht dafür, dass man Tote wiederherstellen kann, sondern
dass du dir sagen darfst: Ich werde auferstehen. Wiederhole diese Worte wie
eine Art von Litanei oder Monolog. Nimm sie und drücke sie fester und
fester an dich, denn sie deuten auf eine geheime, undenkbare Hoffnung hin,
wo du keinen Grund für Hoffnung sehen kannst. Und Jesus steht dafür:
wir stecken in uns wie die Figuren in einem Steinblock. Man muß sich
aus sich herausarbeiten! Man muß sich gegenseitig dazu zwingen! (Musil).
Also keinen in seinem Abgestorbenen lassen: rufen wir einander: Komm, geh
an dein lebendiges Leben. Amen