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Keitumer Predigten   Traugott Giesen   31.12.2002

Psalm 31,16: Gott - meine Zeit steht in deinen Händen

Gut, hier zu sein, in St. Severin - im Vergehen der Zeit ist sie eine Insel für uns Schiffsbrüchige, die gar nicht dahingleiten auf ruhigem Zeitstrom, sondern hin- und hergerissen sind von Pflichten und Begierden und Ansagen, wo gerade eben Glück aufgetischt werde, zersplittert von Angst zu versäumen, gewaschen von falschen Parolen. Gerade Silvester ist es besonders gut in St. Severin, - sag' mir, wie du Silvester feierst, und ich weiß mehr von dir. Noch einmal mich vergewissern, was trägt, und wohin ich mit mir soll.

Nehmen wir uns als Wegweiser Richtung „Rette unsere Seelen“ ein Wort mit von hier: "Meine Zeit, Gott, steht in deinen Händen."

Zeit - haben wir denn überhaupt Zeit, du, ich: Das ist schon beglückend: du, ich, wir dürfen von "meiner" Zeit reden. Der Zeitgeber aller Dinge räumt dir deine Zeit ein. Du darfst deine eigene Zeit haben. Den dir eingeräumten Zeitraum.

Das Rasen, das Vergehen von Zeit ist augenfällig, die Uhr pickt die Zeit weg, die Zeit pickt uns die Jugend weg, das Leben nimmt uns die geliebten Eltern, den geliebten Menschen. Die Generationen kommen und gehen, Arbeit ist gekommen und gegangen, Liebe gekommen und gegangen - ein Jahr, - gleich ist es vorüber gerauscht, der Kalender von 2002 hat dann nur Erinnerungswert. Wüßte ich nicht: Ja, mir ist Zeit eingeräumt vom Zeithaber, Zeitgeber, dann müsste ich doch Panik kriegen, wie sommers, am Strand liegend, du lässt den feinen Sand dir durch die Hände rieseln, - und auf einmal steht es vor dir, das Bild der Vergeblichkeit, das Dahinfahren, das ins Leere fallen meiner Zeit, wir fahren schnell dahin als flögen wir davon.

Aber da ist über dir gesagt: Deine Zeit, dir eingeräumt das Schatzhaus von Gaben und Aufgaben, von Lachen und Weinen. Und da ist das haltbare Wissen, der Trost, die Stärke: Meine Zeit, Gott, steht in deinen Händen.

Meine Zeit, mein Schatzhaus steht, auf festem Grund, und der ist nicht die Beurteilung von Menschen, sondern meine Zeit steht, Gott, in deinen Händen. Ich, wer ich war und werde, stehe in dir, bleibe bei dir. Mein Ich, wie es schon Zeit hatte zu werden, steht bei dir. Ist nicht abgeheftet, archiviert, sondern steht, und blüht wie ein Baum, hat Bleibe, ja: Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar (Psalm 23,6).

Du, ich, wir sind auch Teil von Gemeinschaft, brauchen einander, bauen einander auf, leiden miteinander, wir leben in einer Stadt, sind Städter, auch wenn wir noch ländlich wohnen sollten, brauchen Strom, damit wir es warm haben, müssen einkaufen die Arbeit von vielen, müssen irgendwie vielen nützen. Wir leben in Stadt: griechisch: polis. Daher Politik - das Verabreden und Betreiben des Gemeinsamen, lebenswichtig, hochnotwendig, wir sind nicht für die "Ich-AG" geschaffen, keiner kann ein Krankenhaus sich bauen für sich allein, keiner eine Bildergalerie für sich allein, oder er wäre bald wahnsinnig. Du, ich, wir haben auch gemeinsame Zeit, gemeinsame Kalender; in der Tagesschau, in der Zeitung steht, was uns alle betrifft. Wir hatten auch ein gemeinsames Jahr - mit Euro und Terrorangst und Jahrhundertflut und Wahl und vielen Arbeitslosen und stehen vor der gemeinsamen dramatischen Aufgabe, die Sicherungssysteme für Altwerden und Gesundheit haltbar zu machen. Ja, wir haben auch gemeinsame Zeitbudgets, können Ernte nur gemeinsam stemmen.

Aber es heißt: meine Zeit, Gott, steht in deinen Händen. Letztlich stehst du da, stehe ich da, muß jeder seine Zeit leben, füllen, genießen, gestalten, erleiden, jeder muß in seiner Zeit er selbst werden

Meine Zeit meint mein Ich; mein Lebenslauf namens Ich, mein Gewordensein steht. Vergeht nicht, hat Bleibe in seinen Händen. Ich eingezeichnet in seine Hände, sein Geben und Nehmen schafft mir Stand und Bleibe.

Eigenartig manchmal beim Telefonieren bekommt man den gewünschten Teilnehmer zunächst nicht, sondern es tönt eine Stimme: "Bitte warten; die Verbindung wird gehalten". Das klingt mir überirdisch: Meine Zeit steht in deinen Händen, die Verbindung wird gehalten.

Anfang, Folge, Ende meinerselbst münden in Gott, die Verbindung wird gehalten von Schöpfer zu Geschöpf, ich bin noch in Arbeit bei ihm, bin noch in Entwicklung: meine Zeit ist ja mein Geschöpf-Sein, mein Geschöpf-Werden - die Zeit faltet mich auseinander, entfaltet mich, dich und erhebt dich zum Teilhaben an seiner Ewigkeit“ (K. Barth).

Aber auf Erden ist meine Zeit beschränkt, einmalig, endlich.

Eine Frau schrieb mir eben: Was soll ich davon halten: Mein Nachbar, den ich fast täglich mit den Hunden traf, war seit kurzem unheilbar an Krebs erkrankt und - immer noch lebenslustig - freute er sich mit seiner Familie auf sein vielleicht letztes Weihnachtsfest. Wenige Tage vor Weihnachten wurde er beim Verlassen der Weihnachtsfeier der Firma, wo er arbeitete, vor den Augen seiner Mitarbeiter, Kollegen und seiner Frau, die ihn abholte, von einem Taxi überfahren - und starb fünf Stunden später qualvoll. Ist das gerecht? Ist es besser so für ihn? Vielleicht wurden ihm noch schlimmere Qualen erspart, aber er und seine Frau und Kinder hatten sich so sehr auf noch ein gemeinsames Weihnachten gefreut. - Ja, was ist davon zu halten?

Nur Schmerz ist da bei den Lieben, wenn auch der Gestorbene im Glück ist, - bleiben wir ja verletzt, bleiben geschunden und gekränkt, Invaliden der Liebe, und es dauert, bis man wieder zu seiner Zeit findet, zu sich selbst als eigenem Menschen findet.

Meine Zeit steht, Gott, in deinen Händen, - das beschaffe dir Kraft, gut umzugehen mit deiner Zeit: aufmerksam, veränderungsbereit, mutig.

Aufmerksam, achtsam sein; merken, was ist, was im Kommen ist, was wem wichtig ist. Warum wer was sagt, was er, sie braucht, achtsam, was du brauchst, für Leib und Seele, an geistiger und körperlicher Nahrung. Nichts mehr hineinstopfen, dir nicht, anderen nicht. Achtsam, was heilt und nicht vergiftet, was entgiftet dich und die Luft, das Wasser- dich entlastet und den Boden;

"Glocken der Achtsamkeit“ werden. Atmen, betrachten, bedenken. Merken auf das innere Licht, bei dir und dem Nächsten. Das Göttliche in mir grüßt das Göttliche in Dir - heißt übersetzt ein Indischer Gruß. Du, ich - Glocken der Achtsamkeit im neuen Jahr.

Meine Zeit, Gott in deinen Händen, das mache dich veränderungsbereit. Alle deine Gefühle ehre als Zeichengeber, dass viel in dir sich wandeln will, damit du noch lieber du wirst. Was muß ich ändern, damit der neben mir lieber lebt? "Meine Zeit in deinen Händen" - heißt auch: Meine Möglichkeit im Gleichklang zu dir Gott leben.

Und mutig, also unerschrocken es mit Gefahr aufnehmen, mit Forderungen und Unbequemlichkeit, Privilegien zurückgeben, die ja auf Kosten anderer gehen, da mutig sein, auch aushalten lernen, nicht gemocht zu sein . Tu, was für dich richtig ist, was den Ton deiner Seele trifft. Und halte aus, dass andere dich nicht mögen, triff Entscheidungen, die du vor Gott zu verantworten wagst. Er kennt dich, du lebst und erlebst dich auf seiner Hand. Darum auch Dank fürs alte Jahr, soviel eingeräumte Zeit - und Gebet um noch ein neues Jahr, um viele Tage und Nächte, gute Taten, Glücksgefühle, und Klarkommen mit dem Unvermeidlichen, es war und es wird ein Jahr des Herrn. Amen .


 




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