Keitumer Predigten Traugott
Giesen 22.04.2001
Gewalt, Rechtsradikale, der Samariter und
wir
Das Gebot der Nächstenliebe war oft Thema
zwischen Jesus und den Rabbinen. Einmal warf einer die Frage auf: Wer ist
denn mein Nächster? Jesus antwortete Jesus mit einer Geschichte (Lukasev.
10,30ff):
" Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab
nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen
ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf
sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn
sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Lehrer: als er zu der Stelle
kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise
war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm,
goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein
Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag
zog er zwei Silbermünzen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: pflege
ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Und der Jesus gefragt hatte, "wer ist denn mein Nächster" dem antwortete
Jesus: Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem,
der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit
an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen! "
Wir brauchen dieses Leib- und Seelengleichnis
immer wieder mal, um unsere Sinne zu schärfen. Unseren Sinn für
Mut schärfen, könnte auch die Erinnerung an den Reichtag zu Worms.
18. April 1521 vor 480 Jahren also: Vor Kaiser Karl V soll Martin Luther
seinen Thesen abschwören und sich dem Papst wieder unterwerfen. Luther
aber widerstand mit den Worten: "Mein Gewissen in Gottes Wort gebunden, kann
und will nicht widerrufen. Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe
mir. Amen." Die 12 Lutherstädte haben in Erinnerung an diese Tat
christlicher Freiheit einen Preis ausgerufen für Gewissensfreiheit und
Toleranz. Der wurde eben verliehen der Eberswalder Polizeichefin. Sie hat
klar der Rechtsradikalen Szene die Krallen der Gewalt gezogen und auch Polizisten
der Bestrafung zugeführt, die Gewalt gegen Vietnamesen angewendet
hatten.
Und ich habe letzte Woche mit einer
Zwanzigjährigen sprechen können. Die, wohnhaft dreißig km
südlichwestlich von Berlin, auf Sylt mit ihren wachen Eltern zu Besuch,
erzählte ergreifend einer abendlichen Runde von der rechtsradikalen
Szene in der brandenburgischen ländlichen Gegend: böse Blicke,
Stiefeltritte, Angst und Schrecken verbreiten die bedrohlich gekleideten,
zumeist beglatzten jungen Männer. In den Nahverkehrszügen spielen
sie sich als Herrscher auf, schauerlich lassen sie ihre gewaltausstrahlende
Grölmusik erschallen im Waggon, bis alle Bürger sich in andere
Wagen verzogen haben. Wer bleibt, wird angepöbelt, bis er auch geht,
vielleicht erst noch zum Stolpern gebracht. Manchmal versuchen sie einen
militärisch zackigen Eindruck zu machen, marschieren dann durchs Dorf
zum Gasthaus, das zwei Tage der Woche seinen Saal ihren Versammlungen
öffnet. Die jungen Männer sind vielfach arbeitslos, viele mit
abgebrochener Schulzeit, meist aus kaputten Familien, wo auch die Gewalt
herrscht und man ungern Fremde reinkommen lässt. So ist die Straße
das Zuhause dieser Jugend, sie bauen ihre Ersatzfamilie mit strenger Hierarchie;
die vereinzelten Mädchen bieten ein wichtiges Forum für die
Konkurrenzkämpfe. Alle nicht zur Gruppe Gehörenden sind die feindliche
Umwelt, Menschen mit anderer Hautfarbe ziehen den meisten Hass auf sich.
Man klammert sich an Parolen, die ein deutsches Volk preisen mit
fragwürdigen Tugenden wie Stolz oder Treue - und die Gröler sehen
sich als die Elite. Sie zeigen Nazi-Embleme und haben Hitlerbilder bei sich;
dieser Mörder ist ihnen Vorbild für die Gewalt gegen alles
Schöne, Gute und Fremdartige.
Was diese rechte Szene attraktiv macht, ist
auch das mangelnde Angebot an Lehrstellen, an Kultur, an Kirche. Und es verbindet
sie das Wissen, abgeschrieben zu sein von den glitzernden Metropolen, vom
Geld, von Achtung, von Zukunft. Das Gefühl, von keinem gebraucht zu
sein, keinem etwas wirklich zu bedeuten, prägt tief. Darum setzen sie
auf Gewalt: wenn nicht geliebt, und wenn nicht als Geldbesitzer oder Fachkraft
umworben, dann wenigstens gefürchtet sein. Das nationalistische Gehabe
scheint nur ein Gewand zu sein, das eben gerade Aufsehen besorgt, und die
Gewaltlust irgendwie zu rechtfertigen scheint: Sie behaupten im Dienste des
Volkes angebliche Feinde zu vertreiben. Die Gründe für die
Gewaltanbetung liegen in der Gewalt, die sie selbst erlitten haben allermeist,
in ihrer Kindheit und in der Erfahrung von Gewalt durch die Gesellschaft
in Form von Ablehnung und Interesselosigkeit. In ihrer Ohnmacht suchen sie
Ohnmächtige, denen sie das Gesicht zerschlagen können, um sich
stark zu fühlen; sie stürzen Behindere in ihrem Rollstuhl um, weil
sie eine solche Angst haben vor Schwäche und Krankheit. Sie jagen Angst
ein, weil sie solche Angst haben, unbewaffnet einfach Mensch zu sein. Sie
ermorden Obdachlose, weil sie fürchten, selbst mal an der Flasche zu
hängen, ausgestoßen von allen, und vollziehen vorauseilend das
Gericht über sich selbst an ihnen. Die Rechtsradikalen sehen sich auch
als nützlich. Sie spielen sich auf als die Mutigen, die für die
schweigende Mehrheit die Arbeit macht - nämlich Fremde zu vertreiben.
Tatsächlich lehnen ein Drittel der Deutschen die Zuwanderung von Menschen
aus moslemische Ländern ab. Zwanzig Prozent wollen keine Menschen aus
Osteuropa, generell ist die Akzeptanz von Zuwanderung in Deutschland
gering.
Die Rechtsradikalen, die Ausländern Angst
einjagen und sie verjagen, die haben Sympathisanten tief im bürgerlichen
Lager. Die Quelle aber für Rechtsradikalismus und Intoleranz liegt wohl
noch viel tiefer, speist sich aus einem Gift, das Hitler, den Weltkrieg und
den millionenfachen Mord an Menschen jüdischen Glaubens besorgte. Es
ist das Gift der Gewalt, der Lust, andere Menschen zu beherrschen, sie zu
schinden, zu kommandieren, ihr Gewissen zu regieren, ihre Angst kommen und
gehen lassen zu können. Und diese Lust leben zu können, dazu ist
Fremdenhaß nur ein Feld.
Gewaltgierige Menschen zur Rede gestellt, wissen
oft nicht, was sie tun. Sie verdecken sich ihr Beschädigen und Leidantun.
Sie reden sich ein oder lassen sich einreden, sie täten einen Dienst,
der Wissenschaft oder dem Vaterland oder Gott oder im Dienst der Erziehung.
Sie sind in dem Wahn, sie wären berufen als Ordnungskräfte im Dienst
höherer Mächte, sei es ein wiedererstandener Hitler oder Dracula
oder eines gestürzten Engels.
Zwei Lehrstücke sollten uns vor Augen sein:
die Lehre von Karfreitag: Gott unterzieht sich in Jesus und in allen Leidenden
dem Unheil der Welt. Gott bezwingt die Gewalttätigen nicht mit
Gewaltsamkeit. Er hält die andere Wange auch hin.
Das 2. Lehrstück ist der barmherzige Samariter:
es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter
die Räuber; ein Fremder aus Samarien aber, als er ihn sah, jammerte
er ihn und er half. Klar, So will ich's auch machen und du auch - so
ähnlich jedenfalls, jedenfalls Hilfe heranrufen, und lindern soweit
es in den eigenen Kräften steht, im Gebirge, im Wald, allein, und du
stößt auf einen in seinem Blut. Du musst dich hinbeugen, deinen
Mantel ausziehen, du wirst das Richtige tun. Du wirst nicht fliehen, sondern
standhalten. Schwieriger, wo viele sind. Sofort die Frage, warum ich? Sind
nicht andere kompetenter? Ja riefe einer, ich solle anfassen, ich käme
sofort.
Oder? Die Schlagzeilen von gestellten
Unfällen, viele fahren vorbei, bis endlich einer aussteigt; die Schreie
des LKW-Fahrers , der von Auto zu Auto hetzt, ob einer einen Feuerlöscher
da hat - und der furchtbare Verdacht, dass manch einer seinen schonen wollte.
Auch die Decke nicht rausgibt, weil sie ja verloren sein könnte. Und
wieder die Berichte selbstverständlicher Hilfe, je ärmer die Menschen,
desto hilfsbereiter, als wäre da noch ein Wissen von dem
Zusammengehören aller, eine Geschwisterlichkeitsethik aus dem Wissen,
wir haben alle den gleichen Gott zum Grund des Lebens.
Aber geht des Wissen verloren? Ist es nicht
vielmehr so, dieses Wissen muß immer neu gefunden werden und gesichert
werden. Menschenwürde ist ein knappes Gut. Mord und Todschlag ist alle
Zeit bei uns, doch das Wunder Nächstenliebe - kann jederzeit aus dir
erblühen. Gewalt ist seit Menschengedenken bei uns: Armut neben stupidem
Reichtum; Hunger-, gibt es eine gewalttätigere Gewalt als Verhungernlassen,
und ich könnte es abwenden, wenigstens bei zwei, vier, acht Menschen;
Arbeitslosigkeit - Millionen Menschen erfahren, sie sind über, nicht
gebraucht, freigesetzt, heißt das Lügenwort. Unterdrückung,
Kindersterblichkeit, Folter, Krieg- Gewalt hat viele Gesichter- auch der
Überfall zwischen Jerusalem und Jericho, einer wird misshandelt, beraubt;
halbtod lässt nman ihn liegen- Gewalt allerorten.
Du aber: Sieh den Samariter und geh hin und
tue desgleichen! Das ist Auftrag, Gebot. Die Menschheit wäre ohne viel
Gehorsam gegen das Gebot: Du, töte nicht! Und: Du sollst deinen
Nächsten lieben! längst ausgestorben. Der Barmherzige, was tut
er: er lässt sich unterbrechen auf seiner Reise. Er ist ganz da.
Geistesgegenwärtig ist er hellhörig für die Situation. Er
tut das Nötige, Notverband anlegen, zur Herberge bringen, dort finanziert
er die weitere Pflege, verspricht Erstattung. - Das ist planende,
vorausschauende, vorsorgende Liebe.-
Was hat der Helfende gedacht? Wahrscheinlich
was jeder Feuerwehrmann denkt: Was ist richtig, wie das Richtige richtig
machen. Später dann, gefragt was er denkt: Ich habe nur meine Pflicht
getan. Und wenn der Samariter dann Bürgermeister von Jericho würde,
oder Landtagsabgeordneter jetzt in Galiläa - er würde die Straßen
mit Notrufsäulen bestücken, er würde durch Polizei die
Straßen sicherer machen, er würde Arbeitsprogramme auflegen, dass
die Arbeitslosen mit mehr Würde von sich denken. Er würde die
Räuber ins Gefängnis bringen, dass sie künftig auf Gewalt
verzichten, aus Einsicht oder wenigstens aus dem Nasevollhaben.
Und das alles gehört zum Gebot: Du sollst
deinen Nächsten lieben - auch der Aufbau eines Rettungssystems, auch
Steuerzahlen für Schulen und Sozialarbeiter und ABM-Maßnahmen.
Und Gefängnisse, die der Menschenwürde aufhelfen, die vor allem
einen geschützten Raum besorgen ohne Gewalt, wo man auf mehr sich
konzentrieren kann als nur, wie man durchkommt und sich vor Schlägen
schützt.-
Unser Lieben besorgt noch keine Erlösung,
noch keinen Himmel auf Erden, aber ein erträglicheres Erdendasein, keine
Strafe. Uns gilt: geh hin und tue desgleichen.
Amen.