Keitumer Predigten
Traugott Giesen 31.12.2000
Die Losung des Jahres 2000: Gott spricht:
Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch
finden lassen (Jeremia 29, 13 - 14).
Die Losung des Jahres 2001: In Christus
liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis (Kolosser
2, 3).
Was hat sich denn bewährt? Welcher
Anwachs an innerer Gewissheit geschah dir? Eben das Weihnachts-Oratorium?
� Der schwingende Sog, hineingenommen zu sein in eine gute Geschichte.
Wir waren zum Tanz geholt mit Gott und der Welt. Alle Balken von Trauer
wurden hineingewirbelt in das Fest, alle Einsamkeiten lösten sich
auf in dieser Freudengemeinschaft, �all unsre Not zum End er bringt�, das
spürten wir handgreiflich, wir wurden erhoben, zu besseren Menschen.
� Und was dem einen das Weihnachtsoratorium war, das war dir � ja doch,
es schimmert deine Seele noch von einem Fest der Sinne im alten Jahr; doch,
du hast es erlebt, den Taumel der Schmetterlinge auf den Blüten im
Mai, oder dein Jauchzen in den Wogen, oder der Erfolg in einer finanziellen
Sache, oder die Enkel, die frohlocken, und das Zugehören; du hast
es erlebt, das Heimfinden in einer Umarmung, die dir die Welt als Gottes
Muschel offenbart. Dass du, ich noch mitgenommen wurden ein ganzes Jahr,
der Zeitstrom hat unser Böötchen getragen und wir sollen noch
mitmachen hier, noch wieder ein Jahr, Gnade dir Gott. Jedenfalls: Wir sind
geliebter als wir wissen. Du bist mit allen Mühen Glückskind.
Die Bilder eines Jahres � wir sahen sie
noch einmal. Wie wir kollektiv den Atem anhielten, im Brennpunkt eines
Schicksals sahen wir Glanz und Elend, ein Mensch zu sein. Die Bilder des
Jahres, ungeheuerlich der Mensch � die Freude, die Trauer, die unsäglichen
Mühen, das Gelingen und das Vergebliche, die Liebe und die Verbrechen,
und doch auch, ja auch die Strapazen der Politik, der Kampf gegen die Übel;
und gleichen die Politiker nicht Ruderern, deren Ruder gar nicht mehr ins
Wasser reicht (Klaus v. Dohnanyi)? Doch wir müssen unser Schicksal
meistern � immer wieder und weiter.
Zweitausend � vor allem war es deine Zeit
und dein Ich, wie schwankte es wieder zwischen Gotteskind und Frosch. Welche
Herkuleskraft brauchtest du wieder, normal zu sein, und aufzustehen, die
Arbeit zu tun, weiter mitzugehen, die Zeit zu erfahren. Erfahren �
Welche Erfahrung bleibt dir, welche Spuren
haben sich in dein Ich gegraben? Welches Wissen hat sich dir zur Gewissheit
gekeltert? Du wurdest durchgerüttelt und hattest viel Alltag, du warst
auf Wolke Sieben und hast geheult. Die Welt ist herrlich � die Welt ist
schrecklich, gelobt sei der Name des Herrn.
Aus Krümeln, aus Kratzern, aus kleinen
Verspätungen, aus Augenblicken wird Geschichte gesponnen. Wie eine
Schneeflocke in drei, sechs Umdrehungen die Flaumseele einer Lawine werden
kann, so kann ein Wort zur rechten Zeit den grossen Krach, den Bruch, den
Messerstich verhindern. Nichts ist gleichgültig. Jedes Detail gewinnt
seine Würde aus dem Ganzen, das nicht ganz wäre ohne dieses Staubkorn,
diesen Planeten, diese Stunde.
Und deine Sicht der Dinge vergrössert
oder schmälert den Glanz der Dinge, dein Schauen erhebt, dein Verachten
schwächt. Die Kräfte deines Körpers, deines Denkens, deiner
Gefühle bewegen die Welt. Du erziehst mit, du machst die Stimmung
mit im Betrieb, du sorgst für Menschlichkeit in diesem Land, oder
nicht.
Jedenfalls: Du bist wichtig. Mögen
dich viele für entbehrlich halten, magst du viele vernachlässigen
� sie, du bist unersetzlich, weil Gott dich liebhat, der dich kennt und
bei deinem Namen nennt.
Alles was wir tun hat Folgen bis in die
Ewigkeit. Wie ein Stein Wasserscheide sein kann, ob das Bächlein nach
Süden oder Norden fliesst, so warst du, allermeist ohne es zu merken,
Mitbetreiber von Schicksal. Dein Tun und Lassen dieses Jahres hat Glück
und Mühe eingesät in die Zeit.
Xavier Marias sagt: �Ich dachte es rasch,
ich dachte es, ohne es mir vorzustellen, und deshalb tat ich es. Sich etwas
vorstellen, vermeidet viel Unglück.�
Deine Vorstellungskraft soll wieder gewachsen
sein, dein Mitfühlen fremden Leides machte dich hilfreich. Dein Tun
versinkt nicht im Vergessensfluss. Unser Tun wirkt sich an Gott aus, gräbt
sich ein ins Seinsgedächtnis.
Wir sind auf Verwandlung angelegt. Ich
fühle mich nicht ganz heimisch im Jetzt, erwarte davon nicht alles.
Ich weiss uns in einem Gespräch das nicht aufhört. Es kommt alles
noch einmal zur Sprache. Auch in diesem Jahr war der Text früherer
Jahre oft bei dir wieder da � so konntest du geraderücken, ergänzen,
um Vergebung bitten, Vergebung erlangen, Wiederbefreundung, Versöhnung
vielleicht. Dem Jesus nach, scheint es �unmöglich, dass auch nur ein
einziger Funke von Güte, von Hoffnung, sei er auch ganz von einer
Rinde aus Ungerechtigkeit oder Gleichgültigkeit umhüllt, verloren
gehen soll� (C. Pavese).
Wir kommen ans Licht, wir gehen ins Licht.
Bist du dir in diesem Jahr klarer geworden? Dir mehr auf die Spur gekommen?
Bei Licht betrachtet, von Angesicht zu Angesicht, gewann Fremdes vertraute
Züge. Was dir zuwider war, ins Licht der Zuneigung gehoben, gefällt
dir zur eigenen Überraschung.
Du hörst mal auf, dich unantastbar
zu machen, was hast du nicht alles für fremd gehalten, für dir
fremd erklärt. Aus Unsicherheit, das Deine würde dir verschütt
gehen. Doch du kommst ans Licht. Deine Sicherheit nimmst du nicht mehr
aus Verdrängen und Meiden. Du beschaffst Licht, Aufmerksamkeit, Chancen.
�Dann wir dein Licht hervorbrechen, die
Herrlichkeit Gottes geht auf über dir, aus dir� (Jesaja 58, 9).
Wir kommen aus dem Licht, wir gehen ins
Licht, meint: �Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf� (Ludwig
Wittgenstein). Also Zynismus ist Betrug am Leben. Macht ihn nicht mit.
Wir werden an unvernünftig hohen
Massstäben gemessen. Wir sind auf einen Lauf nach vorn mitgenommen,
der uns den Atem verschlägt. Sünde heisst: nicht mitgekommen,
zurückgeblieben. Bitte um Vergebung heisst: deswegen nicht abgehängt
werden. Gott schuf uns als seine Erdenpartner, als Mitentwickler von Welt,
er lässt uns durchdrungen sein von Dringendem. Wir sollen uns nicht
ergeben ins Vorhandene, das ja Werdestoff ist. Nicht schlumpfig lasst uns
von uns denken.
�Eine so erfahrene Person, wie es die
Menschheit ist� (Musil), hat ein Recht auf unsern Einsatz, wir dürfen
nicht unter unserm Niveau bleiben, wir müssen mit unsern Talenten
wuchern.
Also, warst du dieses Jahr gut, gut im
Rahmen deiner Kräfte, Kompagnon der Herrn? �Seid vollkommen ganz wie
euer Vater im Himmel ist� sagt Jesus. Auch darum bitte noch um Zeit.
Schuldig sind wir geworden, waren nicht
zur rechten Zeit da, hatten nicht die richtigen Worte. Um Vergebung bitten
heisst einfach: weiter mitmachen dürfen, wieder ins Spiel geholt werden.
Bist du schuld, dann stehn wir oftmals
da, mürrisch, verdruckst, gefährlich, weil � wenn du nicht glücklich
sein kannst, sollen�s die andern auch nicht sein.
Bitte um Verzeihung, mach wieder mit.
Da ist ja Fussball wirklich eine Schule der Nation. Einmal Dank an alle,
die zu ihrem Versagen standen und neu anfingen.
Die Philosophen sprechen von der Suche
nach Gott; aber das ist, als wenn man von der Suche der Maus nach der Katze
spräche. Wir sind auf der Flucht � und es wird uns auf die Dauer nicht
gelingen, wird uns zu unserm Glück nicht gelingen.
Dies Jahr mein, dein Weglaufen. � Wenn
der Jahrgang gut ist, sagt der Winzer: �Hajo, is mei Gewächs�. Ist
der Wein sauer, sagt er: �Hajo, halt wie der Herrgott �s hat wachse lasse�.
� Wir rühmen uns gern, das macht atheistisch; und wir schieben gern
Schuld ab, auf die Umstände, auf Gott, das macht blasphemisch. Meine
nicht, dein Leid oder dein Glück sei ein privates Schicksal. Robert
Musil sagt: �In Wahrheit ist das persönliche Glück nur insofern
in sich abgeschlossen, wie es ein Stein in der Mauer oder ein Tropfen in
einem Fluss ist, durch den die Kräfte und Spannungen des Ganzen gehen.
Was ein Mensch tut und empfindet, ist geringfügig im Vergleich mit
allem, wovon er voraussetzen muss, dass es andere für ihn in ordentlicher
Weise tun und empfinden. Kein Mensch lebt nur sein eigenes Gleichgewicht,
sondern jeder stützt sich auf das der Schichten, die ihn umfassen.
Und so spielt in die kleine Lustfabrik der Person ein höchst verwickelter
Kredit� des guten Ganzen hinein.
Das gute Ganze, der gute Ganze, der dich
umfängt, auch mit deinen krummen Touren, der ist mit dir ein Jahr
gegangen � und wo du ihn vermisstest, da hat er dich getragen. Du hast
in Gott versteckt gelebt, du hast an ihn geglaubt, auch ohne an ihn zu
denken. Die Sehnsuchtsgewissheit deines Jahres ist Liebe und �Liebe ist
das sanfte, göttliche, von Asche verdeckte, aber unauslöschliche
Wesen der Welt� (Musil). Es lohnt sich zu leben. Du lohnst dich auch fürs
neue Jahr. Amen.
(Die Kernsätze (kursiv) sind von Helmut
Gollwitzer)