Keitumer Predigten Traugott Giesen
23.07.2000
Tiere, mit uns Kreatur
Jeder hat in seiner Lebensgeschichte Phasen mit Tieren. � Ich bin als
kleiner Junge zwei Jahre auf einem Bauernhof evakuiert gewesen. Und hab
einmal Dresche gekriegt, weil ich die Kühe bei ihrem Verdauungsschlaf
aufgescheucht habe. Ich habe wohl auch bei der Beerdigung eines Hundes
erste Gedanken von einer Zukunft nach dem Tode gehegt. Wieder vor Augen
kam mir beim Bedenken für diese Predigt ein Bild aus jener Zeit: Meine
Mutter zog mit einer Kinderschar, ich dabei, einen Leiterwagen, auf dem
der geliebte tote Hofhund lag. Wir hatten den Wagen mit Zweigen geschmückt
und gingen in den Wald, um an einer Lichtung Beerdigung zu halten. Unter
Tränen sangen wir das Soldatenlied �In der Heimat, in der Heimat da
gibt�s ein Wiedersehn.� Später haben wir als Pfadfinder Rehe und Hirsche
beobachtet, die Fährten lesen gelernt, noch später im Ngorongorokrater
in Tansania die Schöpfungsvielfalt bestaunt, später den eigenen
Kindern ein Häschen zugesellt, dann einen Langhaardackel schätzen
gelernt, der uns oft in den Dünen abhanden kam bei seiner Kaninchenjagd;
und sie starb bei der Geburt ihrer zu grossen Kinder. Die zog die ganze
Familie mit Liebesperlenflasche gross, um sie dann einzeln zu verschenken.
Ich schätze Eier aus Bodenhaltung, zahle dem Bauern gern die zwei
Mark mehr fürs viele Bücken. Fleisch beziehen wir vom Schlachter,
der sagt, seine Tiere kämen vom elterlichen Hof; was für die
Rinder stimmen mag, schon die Schweine kommen wohl von irgendeiner Schweinemästerei
in automatisierter Intensivhaltung. Es geht dort leidvoll zu. Auch die
Schlachthöfe bedeuten Qual; die Thunfischjagd ist eine Metzelei, so
gerade wieder der neue Stern; die Tiertransporte quer durch Europa sind
nur Schinderei; die Abrichtung von Hunden zu Beissern ist böse, ebenso
die nicht artgerechte Züchtung; es gibt ein todtrauriges Wiehern,
ein Schreien von geschundenen Pferden, wie es in Picassos Bild Guernica
geschaut ist.
Und ähnlich zwiespältig wird es wohl uns allen gehen, mehr
oder weniger: Einzelne wunderbare Freundschaften zwischen Mensch und Tier;
ein anderes Feld ist, dass sie uns Nahrung sind � und wir sehen nur das
Fleisch von der schönen Seite.
Also das Tier als Freund und das Tier als Verbrauchssache.
Sie sind ein Wunder mit ihren quecksilbrigen Nerven, ihre Augen tief
wie Teiche, ihr menschlicher Atem, die sprudelnde Schnauze. Geduld könnte
man lernen von den Ziegen, die zum Gemolkenwerden anstehen, das Lasttragen
von den Eseln. Das Aussersichsein vor Freude beim Herannahen von Herrchen/Frauchen
hebt über viel Alleinsein hinweg.
Tiere sind nicht empfindungslose Automaten (Descartes). Sie sind nicht
restlos eingebunden in den Mechanismus von Reiz und Reaktion; alle höheren
Tiere haben Individualität, sie bevorzugen und haben Abneigungen.
Wie von Seele zu Seele können Gespräche sein. Wer warst du, ehe
du Mensch wurdest? könnte der Hund mit seinem schräggestellten
Kopf fragen. Und du zurück: Ja, wer warst du, ehe du Hund wurdest?
Viel spricht für Konrad Lorenz: Jeder Hund ist besser als kein
Hund.
Im Alter spitzt sich die Frage zu, ob der treue Begleiter einen wohl
überlebe, und die Festlegung im Testament ist klug, dass der reichlich
bedacht werde, der sich des Hundes angenommen hat ohne von der Verfügung
zu wissen. Bauern gehen anders mit Tieren um als Städter, alle gehören
zum Hof. In der Stadt, aus Respekt vor der Eigenwilligkeit des Tieres oder
aus eigener Freiheitsliebe, kann man es halten wie Peter Handke: �Die Vögel,
im Vorbeifliegen, sollten als Haustiere genügen.�
Die Schöpfung, der Anfang der Schöpfung, wird in der Bibel
beschrieben als Gottes Tun in 6 Abschnitten, 6 Weltzeiten. Der fünfte
und sechste Tag ist gefüllt mit Erschaffung der Lebewesen, ein Abschnitt
für Wasser- und Lufttiere, ein Abschnitt für Landtiere und Mensch.
Schon diese Verklammerung weist uns aneinander. Ja, wir sind berufen, über
die Tiere zu herrschen, sie also uns zuzuordnen, dass sie uns dienen. �
Wir sollen sie uns untertan machen in Konfiguration, wie wir Gott untertan
sein sollen.
Die Tragik der Christenheit ist: Wir haben diese Parallelität
zu Gott verloren. Wir haben uns weitgehend losgerissen von dem Glauben
an Gott. Wir betreiben Weltbeherrschung bis ins letzte Nanomass und in
interstellare Räume , aber den Gottesbezug verlieren wir. � Wir Menschen
haben uns weitgehend losgerissen von dem Glauben an Gott, aber den Auftrag,
die Freistellung, uns die Erde untertan zu machen, die haben wir verinnerlicht.
So benehmen wir uns als Herren der Welt und verlieren mit der Ehrfurcht
vor Gott die Ehrfurcht vor dem Leben. Wir beherrschen die Natur sehr weit
aber können uns selbst kaum bremsen, wenn wir eine Chance sehen, Vorteile
zu ergattern. Unsere Gier, alles zu Ware und Sache zu machen, ist kaum
zu zügeln � das fängt so spielerisch damit an, dass Kinder ihre
abgelegten Spielsachen auf der Strasse verkaufen. Der Sinn für Kosten
und Nutzen ist uns so stark entwickelt, dass preisbewusst einkaufen als
starke Tugend gilt � und kostengünstig Tiere schlachtreif zu machen
dann natürlich auch. Dass wir Tiere verbrauchen, damit fängt
das Übel ja an. Als Verbraucher fragen wir wenig nach Produktionsbedingungen.
Und wissen wir sie, handeln wir doch gegen besseres Wissen: kaufen wir
doch nicht den Kaffee zum fairen, also teureren Preis.
Dabei hängen wir mit aller Kreatur zusammen. Die Grundtatsache
der Schöpfung ist, dass sie Evolution ist, aus dem Lat.: Auswicklung.
Material und Lebendiges wird in vielerlei Formen auf ein Ziel hin entwickelt
mittels Veränderung und Auswahl. Also Veränderung und Auswahl
machen die Entwicklung nicht, sondern sind die Mittel der Auswicklung.
Wie das Ziel heisst, das lässt sich nur in religiösen Worten
andeutungsweise beschreiben, etwa �Reich Gottes, Paradies, Ewiges Leben.�
Und die abgelebten Daseinsformen werden in irgendeiner Weise am Ziel
teilhaben. Der Gedanke hat etwas, dass die Mühselig und Beladenen
einmal über ihre Herrscher und Schinder zu Gericht sitzen werden.
Und dass die Tiere uns dann abfordern, was wir ihnen an Qualen zufügten.
Die altägyptische Ethik räumt dem Tier das Recht ein, den Menschen
zu verklagen. Elias Canetti hat gesagt: �Ganze Weltalter voll Liebe werden
nötig sein, um den Tieren ihre Dienste und Verdienste an uns zu vergelten.�
Wir tun gut daran, uns Menschen nicht auszugeben als Krone der Schöpfung.
Wir Jetzigen sind eben nur das letzte Ende, das schon in nächster
Generation überholt sein wird.
Aber wir haben eine Chance. In uns ist ein Wertfühlen (Max Scheler).
Wir fühlen Schönheit, Eigenständigkeit, Fremdheit und ahnungsvolle
Nähe der Tiere als wertvoll. Und was uns als wertvoll aufgeht, als
der Werte voll, das müssen wir schonen. Wir lernen. Das Entsetzen
kommt doch näher, wie wir die Natur zum blossen Ausbeutungsgegenstand
herabgewürdigt haben. Angekommen ist die Klage der Indianer über
den wilden, wahnsinnigen Weissen Mann, der die Büffel ausrottete,
die Mustangs, die Antilopen; der die Wälder schlug, bis sie verschwanden,
Zerstörung und Unordnung brachte. Weil wir uns selbst zum Mittelpunkt
der Welt machen.
Wir leiden wohl an Selbsterhöhung, überschätzen die
Kenntnisse, die wir von der Welt haben. Wir bilden uns viel auf unsere
Denk- und Sprachfähigkeit ein, aber auch die Tiere haben ihre Mitteileformen,
haben subjektive Erlebnisse, bauen die eigene Wahrnehmungswelt auf. Cioran
sagt: �Der Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht darin, dass das
Tier nur Tier, während der Mensch auch Unmensch, somit etwas Anderes
sein kann als er selbst.�
Israel hat dem Vieh mit die Sabbatruhe gegönnt. Und in den Sprüchen
heisst es:� Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs� (12, 10). Umfassend
sagt es Albert Schweitzer: �Ich bin Leben, das leben will, inmitten von
Leben, das leben will.� � Damit sollte uns abgeschnitten sein alle geistlose
Benutzung von Tieren. Aus Mitleid mit der schreienden Kreatur ist geboten,
Praktiken, die mit Leid verbunden sind, zu unterlassen. Wir müssen
nein sagen lernen zu Genüssen, die mit Jammer erkauft sind. Das ängstliche
Seufzen der Kreatur zu lindern ist Gebot.
Das ist der Test auf unser Erbarmen, sagt Milan Kundera: Die wahre
menschliche Güte kann sich in Reinheit und Freiheit nur denen gegenüber
äussern, die keine Kraft darstellen. Vielleicht finden wir noch hin
zu einer scheuen Verehrung der Tiere. Amen.