Keitumer Predigten Traugott Giesen
09.07.2000
Die wiedergefundenen Söhne � eine Geschichte des Jesus, Lukas-Evangelium
15. Kapitel
Es gibt Geschichten, die Lebensbrot haben. Die muss man bei sich tragen,
oder immer wieder auf sie stossen. Das Gleichnis des Jesus vom Verlorenen
Sohn ist mir die innigste Erzählung davon, wie wir zu Gott gehören
und wie wir Schwierigen als Geschwister zueinander hingedacht sind.
Wir brauchen Geschichten, die uns bebildern, was alles hier für
einen Sinn hat. So viel Gefühlsleere, Wahn, Verzweiflung, so viel
zersplittertes, zerrissenes Dasein, so viel Dinge und Informationen. �
Welche Weisheit hilft, die Informationen aufzufädeln und zu deuten?
Wir sehnen uns nach Halt und Sinn. Die einen klammern sich an ihre
Arbeit, andere rufen ihre Zweipersonenliebe zum Sinn des Ganzen aus oder
halten die Familie für die letzte Rettung, ihr Haus für die feste
Burg. Und überhöhen damit Arbeit oder Liebe oder Familie. Es
gibt noch mehr als diese Grundzutaten des Lebens.
Wohin gehören wir, ich, du? Wie gehören wir zusammen? Die
Menschen müssen das schon früher gefragt haben; sonst wäre
die Geschichte nicht erzählt worden vor bald zweitausend Jahren.
Die Geschichte von den verlorenen und wiedergefundenen Söhnen
erzählt: Wir gehören zu dem einem mütterlichen Gott und
sind einander Geschwister in dem einen Erden-Haus.
Gott, der Name fürs Herz aller Dinge, mütterlicher Vater,
väterliche Mutter; die Söhne können auch Töchter sein.
� Jedenfalls, der Jüngere/die Jüngere will von den Eltern sein/ihr
Erbe vorzeitig ausgezahlt bekommen. Und sie teilen ihnen das Gut. Und der/die
Jüngste packt alles zusammen und zieht in die Ferne und verprasst
alles.
Wir wollen uns die Geschichte anprobieren, also kriechen wir in die
Kleider der Söhne. Das jüngste Kind ist offener für neue
Wege, und die Fremde lockt es mehr. Es geht aus dem Elternhaus, aus dem
Glauben der Eltern aber nimmt das Erbe mit. Das Erbe jetzt übertragen
auf die Schätze der Moderne. Sie sind genommen aus dem Christentum:
Etwa die Achtung vor der Würde des Einzelnen, das eigene Gewissen,
das Vertrauen in den Weitergang des Lebens, das Prinzip Hoffnung. Und das
demokratische Prinzip: Einer ist Gott und Meister. Ihr aber seid alle Geschwister,
und wer Erster sein will, der sei Diener aller (Matthäus 20, 26. 27).
Und vor allem: Die Entheiligung der Natur, die Freigabe der Natur zur wissenschaftlichen
Beherrschung, ausgedrückt im Schöpfungsbefehl: Füllet die
Erde und macht sie euch untertan (1. Mose 1, 28). Das ist nur ein Ausschnitt
der Schätze, die die Moderne überhaupt erst hervorgerufen hat;
die der moderne Mensch ganz selbstverständlich beleiht, auch wenn
er von Gott meint, fortgegangen zu sein.
Der Jüngste geht ja vom elterlichen Hof mit dem Segen: Der Glaube
der Generationen muss sich wandeln � wir dürfen ausziehen auch aus
der Kirche unserer Eltern, Grosseltern � nur: wie legen wir das Erbe an?
Der Jüngste vertut sein Erbe.
Wie kann man verzocken die Schätze des Glaubens, der Liebe, der
Hoffnung? Wie könnte sich anfühlen verwilderter Glaube, verwahrloste
Liebe, verprasste Hoffnung?
Verwilderter Glaube, das sind die falschen Götter, die wir uns
machen, die Trugbilder vom kampfstarken Macher des eigenen Glücks:
Wie wir uns für Bevorzugte des Schicksals ausgeben und Privilegien
behaupten, die Herkunft unserer Begabungen vergessen, unsere Leistung für
unser Werk halten. Dabei sind doch alle Voraussetzungen für Erfolg
Gnade und Begabung. Oder die verwahrloste Liebe, da gibt es keine für
die öffentliche Rede geeignete Sprache für ein so ernstes und
jedermann berührendes Thema, keinen Mittelweg zwischen Obszönität
und Schweigen? Nur der hölzerne Gesichtsausdruck und das Grinsen.
Keine Sprache der Symbolik, nur Sprache des Obszönen oder die Sprache
der Klinik (Peter Nadás). Und die verprasste Hoffnung: Lotto, Börse,
Glücksversprechen, Werbesprache, Hoppen von einem Event zum andern.
Und auf morgen hoffen, dabei hofft das Morgen auf uns.
Und als der Jüngste das Seine umgebracht hat mit Prassen, hängte
er sich an einen Reichen. Der schickte ihn zu einer Drecksarbeit, aber
er wurde nicht satt. Dreck, der nicht satt macht: Getätschelt und
hörig; hingehalten werden von Ausbeutern, Fernsehen als Vertröstung,
Versprechungen, Versprechungen.
Da am Schweinetrog ging er in sich: Wieviele gute Arbeit hat mein Vater.
Das ist die Rettung. Die Rettung heisst Erinnerung: Erinnerung an den Glauben
der Kindheit, an die Schutzbilder, bevor diese zerrissen wurden von eigenem
Dünkel oder von grausamen Menschen. Was du auch erlebt hast an Verneinung
und verdunkeltem Gott � du hast auf dem Grund deiner Seele einen Schutzheiligen,
ein Glutkern der Güte und der strahlenden Selbstgewissheit: Du, Kind
Gottes � dieser Schatz ist da als Notration im Lebensgepäck: Gott
liebt dich und braucht dich � war das Zauberwort, das dich ins Leben rief.
Du warst geliebt, wunderbar, nötig. Und bist es.
Jetzt, in der Tiefe, im Brunnen der Vergangenheit siehst du dein Antlitz
erhoben. Du weisst, dass dein Erlöser lebt, und wird dich noch aus
dem Staub erheben (Hiob 19, 25). Der Sohn läuft, läuft: Weiss,
dass er sein Erbe vertan hat, damit kein Recht mehr hat, wieder als Kind
aufgenommen zu werden, aber als Knecht fürs Grobe halt, als Spüler
noch eine Chance hat, vielleicht. Und der Junge legt sich Worte der Reue
zurecht.
Als aber der Vater den Sohn sah, wie er noch weit vom Haus weg war...
Dies Bild für Gott: Der seinen Kinder die Freiheit lässt,
sich von ihm abzukehren, dass sie sich selber zu Herren der Welt ausrufen;
ja, sie sollen sich die Erde in Gebrauch nehmen mit dem Risiko, Gott zu
vergessen und damit das Mass zu verlieren. Und doch ist ihnen die Ewigkeit
ins Herz gelegt (Prediger 3, 11). Wir werden unsere kritische Spassintelligenz
noch verabscheuen. Der erste Schluck aus dem Becher der Wissenschaft macht
atheistisch aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott (Max Planck).
Als er noch fern vom Haus war, sah ihn sein Vater. Ja, Gott hält
nach uns Ausschau, wir sind ihm nicht abhanden gekommen, wir laufen ja
in seiner Welt, nutzen seine Begabungen, treffen seine Mitmenschen, atmen
seine Luft, leben von seiner Zeit. Auch wenn von uns aus der Blick-Kontakt
abgerissen war, blieb es zwischen Gott und uns freigeschaltet, wir waren
nur eine Papierwand weit weg � wir liefen ja in seiner Hand, wussten es
nur nicht.
Aber wir können endlich skeptisch werden gegen unseren Zweifel,
können wieder zu ihm beten; haben ja schon bei so viel Bewahrung im
Verkehr ihn angerufen, bei soviel Flugzeuglandungen Gottseidank gewusst.
Wir können wieder zurückkehren und um Vergebung bitten.
Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und hatte Erbarmen, er
lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Wie geht das?
Gott fällt uns um den Hals, küsst uns, gibt dir seinen Ring,
schlachtet das gemästete Kalb: wie gibt uns Gott ein Fest?
Das Leben gut finden, sich vom Leben finden, gut finden lassen. Die
Freude am Gelingen ist festlich. Hunger haben, kochen, essen, möglichst
nicht allein; arbeiten, etwas vorwärtsbringen � wir sind doch von
Gott angesteckt, ein Werk zu vollbringen; Kinder, Enkel, sie müssen
nicht leiblich sein; das Ziehen der Wolken sehen; und einen trösten,
verstanden werden, einen sanft spüren; auswählen und ablehnen
und entscheiden. Das ist das Fest des Lebens. Und, sagt Harold Brodkey:
Versuche nicht zu glänzen. Sei schlau: zeig nicht, wie schlau du bist,
und zeig nicht, wie blöd du bist. Und sei dir bewusst, dass dir das
irdische (und sexuelle) Recht zusteht, deinen Umständen zu entkommen.
Das Fest, das Gott dir anrichtet, ist auch, dass du nicht in einer vielleicht
miesen Geschichte mitspielen musst.
Und du kannst noch einmal anders glauben.
Aber der Bruder. Er will nicht die Veränderung. Er will ihn festhalten
an seinem Sosein. Der hat sich schlecht benommen, hat seine Chance gehabt.
Der Bruder war auf dem Feld, hat geschuftet auf dem Acker des Herrn und
kommt abgekämpft nach Hause; da ist Fete � das Befürchtete ist
eingetreten: Das Bürschchen, alles hat er durchgebracht, und jetzt
ist er wieder der Liebste. Und darüber kommt ihm ein grosser Zorn.
So viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten.
Doch mir hast du nie einen Bock gegeben, dass ich mal mit meinen Freunden
hätte fröhlich sein können. Nun aber dein Sohn gekommen
ist, der dein Gut umgebracht hat mit Huren, gibst du ihm ein Fest. Der
ganze Frust des Fleissigen, Redlichen, Verzichtenden, Bewahrenden schüttet
sich aus gegen den geliebten Gauner, der jetzt wieder unterkriecht.
Aber der Vater erbleicht: wie kannst du mich so unterschätzen?
Dein Bruder hat mich ausgenutzt, du aber hast mich verkannt: �Was mein
ist, ist doch dein.� Dein ist die Herde, wie kannst du warten, bis ich
dir ein Schaf abtrete. � Dein ist das Leben, was machst du mich zum Knauser,
wartest, dass ich dir Gesundheit, Liebe, Geld, Freunde zuteile, wo du dich
durch Dichentziehen verweigerst. Dein Bruder hat alles genommen, alles
gegeben, alles verprasst. � Du hast nichts genommen dir, hast nichts von
dir abgegeben, hast alles gespart � hast keine Gnade nötig. Aber jetzt
geh du los, und betrachte die Welt, und deinen Bruder lass schuften. Er
will es wieder. Hauptsache, du feierst mit, dass er lebt.
Und riskiere, mich zu finden wo du mich nicht suchst, auch jenseits
des Gewohnten. Amen.