Traugott Giesen Kolumne 16.10.1999 aus Hamburger Morgenpost
Lebensmittel Buch
In Frankfurt ist Buchmesse. Erstaunlich überhaupt, daß das
alte Wort für Gottesdienst, nämlich �Messe�, auch für die
großen Verkaufsschauen steht. Früher waren die Kirchenfeste
mit Jahrmärkten garniert. Heute, sagen Spötter, seien die Märkte,
Kaufhäuser, Expos die modernen Tempel. Es hat schon was von verunglückter
Anbetung an sich, daß Menschen jubeln, sonntags einkaufen zu können.
� Vielleicht meinen sie ja, den Feiertag angemessen zu heiligen mit dem,
was sie am liebsten tun: anschaffen. Geld und Geist gehen schon wunderliche
Verbindungen ein.
Und eine Buchmesse ist eine besondere Legierung von Geist und Geld.
Da werden ja eigentlich Gedanken gehandelt, Geschichten, Einsichten, Ansichten,
Hoffnungen und Deutungen. Ja auch Kochbücher gibt es, Reisewegweiser,
Gesundheitsführer, ganze Trickkisten voll, wie man glücklich
werde, oder ein harter Typ oder Millionär. Und elektronischer Schnickschnack,
Videos mit wenig Text und viel Augenschmaus. Soll alles sein.
Aber in der Mitte steht immer noch das Buch, das vom Lebendigen erzählt,
von Irrungen und Wirrungen unserer Seelen, von Gier und Last und Verbrechen
� und von der Liebe. Weil wir alle mehr Sehnsucht haben als die Liebe auch
zu leben, müssen wir Bücher lesen, kleine Fluchten, Drehbücher
fürs eigene, wenn man nur wollte. Phantasie ist unsere größtes
Pfund. Wir können in die Biographie anderer schlüpfen. Wie wir
fliegen lernen können am Simulator, so können wir die Lehrjahre
anderer verinnerlichen, können leben lernen durch Abgucken, Nachdenken,
Nachfühlen.
Wir müssen nicht das Rad neu erfinden, wohl es neu benutzen lernen.
Sind nicht Bücher für den Geist, was das Rad für die Bewegung
ist? Bücher sind Werkzeuge, Denkzeuge. Wer nicht lesen will, der muß
mit dem auskommen, was er immer schon wußte. Also kommt er nicht
weit.
Viele Bücher (und Filme) wiederholen nur die gängigen Vorstellungen
von Liebe, Lust und Leid. Warum? Weil viele Leser, Seher im Vertrauten
bleiben wollen; ja gut. Aber Bücher zaubern, befruchten. Sie können
uns ungeahnt Schönes in den Geist rufen, können machen, daß
ich mich ganz anders denke, als ein Mozart oder Kain oder Maria Theresia
oder Frankenstein. Und ich kann zur Sprache finden. Ideen hüpfen mir
aus dem Buch ins Hirn. Sie bilden kleine Wissensdepots, Mutquellen, Rausredeenergien
auch und Berufungen. �
�Auch das ist Kunst, ist Gottesgabe, aus ein paar sonnenhellen Tagen
sich so viel Licht ins Herz zu tragen, daß, wenn der Sommer längst
verweht, das Leuchten immer noch besteht� � natürlich Goethe, also
Buch. Hast du ein, zwei Bücher in Nutzung? Zweihundert zum Wiedersehen?
Oder mehr? Du Glücklicher. Ein Buch ist wie ein Garten, den man in
der Tasche trägt.
Drucken