Traugott Giesen Kolumne 22.08.1998 aus Hamburger Morgenpost
Warum sie?
Die Pinneberger Familie starb in einer Schlammlawine am Brenner. Vom
Steilhang prasselten nach tagelangem Regen 10000 Kubikmeter Geröll
und zerquetschten Auto und Menschen auf der Stelle. Sie kamen aus dem Urlaub
am Gardasee. Der Vater war seit 24 Jahren bei der Feuerwehr; er rettete
vielen Menschen das Leben. In drei Tagen wollte er mit seiner Frau den
zehnten Hochzeitstag feiern. Sohn Jan war sieben Jahre, er sollte gerade
eingeschult werden. Für Freunde und Kollegen ist ihr Tod ein Schock.
� �Sie waren doch so glücklich � warum traf es gerade sie?"
Daß wir so fragen, kommt davon, daß wir eine letzte verantwortliche
Instanz glauben. Und die soll gerecht sein. Aber es ist nicht gerecht,
wenn guten Menschen Böses widerfährt. Doch die Sache ist komplizierter.
Wir haben keinen Herrgott, der die Schicksale zuteilt, schon gar nicht
als Prämie oder Strafe. Das meinten noch die Zeitgenossen Jesu. Da
saß ein Blinder am Wege � und die Jünger wollten eine gelehrte
Diskussion beginnen: �Klar, daß dies Schicksal nur Strafe sein kann
� aber wer hat gesündigt: Er oder seine Eltern?� Und Jesus antwortet:
�Wenn es um Schuld ginge, wie erklärtet ihr dann, daß es euch
noch nicht traf? Ihr seid doch genau so bös-gut oder gut-bös
wie der mit dem harten Schicksal. Er ist krank, damit er gesunde.�
Jesus zerschlägt den Gerichtsvollzieher-Gott, der die Guten belohnt
und die Bösen bestraft. Schon weil Bösesein Strafe genug ist.
Und Gutes tun ist doch beglückend, Schenken erschafft Dank, Erfreuen
steckt an, braucht keine Exrtrabelohnung. Und Bösesein ist doch Qual,
ist doch Selbstverachtung total, ist Strafe in sich. Keiner ist freiwillig
böse. Großzügig und fürsorglich, neidisch oder aggressiv
� dazu werden wir doch vom Leben erzogen. Und sie bleiben alle Gottes geliebte
Kinder � die Schwierigen besonders.
Aber die Energie des Lebens, der Fluß der Zeit, das Herz aller
Dinge, die Liebe, Gott macht, daß die Schöpfung sich selber
macht. Das Wetter erfindet der Betreiber der Welt nicht jedesmal neu, sondern
läßt Sonne, Wind, Wärme und all die Sachen zusammen spielen.
Er lenkt auch nicht jedes Auto selbst, sondern macht uns fähig, miteinander
zu verkehren. Dabei sind wir oft gierig oder schläfrig oder angeberhaft
und nicht klug genug für die vielen PS, oder unterschätzen die
Naturgewalten. Dann kommt die Gesteinslawine runter wegen der Schwerkraft,
die ansonsten ja die lebensförderlichste Erfindung überhaupt
ist. Und dann trifft es einen von uns, unverdient, wie wir anderen unverdient
weiterleben dürfen und auch müssen. Was geschieht, ist Teil der
Allmacht. Die pickt niemanden heraus; die hat durch Leben und Tod hindurch
viel mit uns vor. Gut und Böse bleiben gerahmt von seinen Händen.
Du, ich leben noch, wozu?
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