Traugott Giesen Kolumne 22.11.1997 aus Hamburger Morgenpost

Die uns starben, stärken uns auch

Jeder ist auch Hinterbliebener. Wir haben auch viele andere Rollen, Eltern oder Kind, Nachbar, Kollege, Mann, Frau � aber ganz wesentlich sind wir auch Erben, Zurückgelassene, Nachkommen, Verlassene, sind verwitwet, verwaist. Diese Beziehung ist lebenswichtig. Die Väter bleiben uns Gründer unserer Erfahrung, die Großeltern bleiben uns die Verläßlichen der Kindheit, die Mutter bleibt uns die erste Liebende und Entbehrte. Der Partner über Jahre, Jahrzehnte, dahingegangen, bleibt der Lebensgesprächspartner noch lange, auch wenn eine neue Liebe gelingt.

Zu Lebzeiten sind wir an einem Ort und genau so. Gestorben sind wir überall mit dabei, aber anders, nicht mehr als die aktuellen Zeitgenossen. Die Toten bleiben gedankennah, doch in den Altern von damals. Wir mußten und durften weiter, wir wurden seitdem verwandelt. Sie bleiben zurück, und die Zeit stürzt von ihnen fort

Darum ist es nur ein Alptraum, daß unser geliebter Toter auferstände, und sein gewohntes Leben mit uns weiter fortsetzen wollte. Wir sind Verwandelte. Der Zurückgebliebene wird uns immer versöhnlicher, doch lieben müssen wir Lebendige.

Darum Dank an die Toten, daß sie uns lassen. Nur segnend kann ich sie mir vorstellen, sie bestärken uns zu unserm jetzigen Leben und Lieben. Wenn sie in Gott sind, wissen sie mit Gott. Vielleicht sind die im Gespräch, wie man uns gerade zur Vernunft bringt. Aber sie mischen sich nicht ein. Sie schicken Energie, Heiligen Geist � aber anonym und wollen keinen Dank. Sie sind in der Fülle, unsere Krümel brauchen sie nicht. Wir sollen uns um die Mitlebenden kümmern. Die Zeit ist kurz genug.

Ein guter Ort zu gedenken ist der Friedhof. Und ein Grab pflegen, manchmal selber auf den Knien, das ehrt uns: wir gestalten uns ein Stück Dank. Wir haben das Gefühl, noch was zu tun für die Guten, die uns zu ihrer Zeit die Richtigen waren. Natürlich brauchen sie nicht ein gepflegtes Grab, aber wir brauchen eins, wir wollen es ordentlich haben dort, wo wir Erde zu Erde gaben.

In der Thomas-Kirche in Leipzig ist Johann Sebastian Bach begraben. Hier erklingt täglich seine (?) Musik, auf der Marmorplatte liegen täglich frische Rosen. Ein Grab zeigt etwas von unserer Beziehung, wie wir zueinander standen, es bewahrt noch ein Stück liebendes Gedächtnis. Es wahrt noch ein Stück Zugehören vor aller Augen und schenkt Achtung dem, der am Ziel ist. Denn es ist ein Werk, mit Anstand von hier loszukommen. Zum Friedhof gehen, auch auf fremde, das stellt uns in die Kette der Generationen, bezeichnet uns auch als Vorübergehende, macht uns bescheiden. Wie wünschen wir, daß auch an unserm Grab mal Menschen verweilen und unser gedenken mit Herzlichkeit.

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