Traugott Giesen Kolumne 31.12.2005 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Zwischen den Jahren, zwischen den Zeiten

Himmel und Erde

von Traugott Giesen

Wieder hatten du und ich ein ganzes Jahr Zeit. Gut, daß wir am Altjahrestag uns ein paar Minuten nehmen für dieses ungeheure Wunder. Wir haben liebe Menschen zu Grabe tragen müssen; haben mitgelitten die Leiden der Katastrophen und Anschläge. Und wir leben noch. Wir haben gefeiert und gelacht, gearbeitet und gelernt, haben andere genutzt und uns nutzen lassen. Wieder erfuhren wir vier Jahreszeiten, wieder riesige Himmel mit Sternen, schmackhafte Essen, Runden mit Freunden. Wir hatten noch bis gerade Zeit für alles Mögliche.

Hiersein zu dürfen ist ein Wunder. Du, ich erleben es noch. Und werden heute mal still in uns kehren, während das Feuerwerk kracht oder beim Spaziergang oder beim Spiel mit Kindern. Oder beim Vorbereiten des Abends klinken wir uns eine Weile aus oder gehen zu einer Andacht. Jedenfalls laßt uns das feiern, innen, festlich, dankbar: Uns war noch Zeit gelassen. Egal wie der Name dessen ist, der uns Zeit ließ - vielleicht ist ja Gott ein anderer Name für Zeit. Und Zeit ein Tarnwort für den Ewigen.

Klar ist: Einer ist Zeitgeber, wir sind Zeitnehmer. Nicht wir machen, daß unser Herz klopft, unser Herz wird doch schlagen gemacht. Wir werden betrieben vom Grund des Lebendigen, wir sind Filialen des Lebens, Kinder der Zeit auf Zeit. Wir haben nicht mehr Verdienst, noch da zu sein, als die, denen die Stunde schlug. Es hätte auch mich, dich treffen können - der Unfall, die Krankheit, der Schlag, das Vergessen. Aber wir sind noch da. Sind noch hier gewollt. Das laßt uns feiern in Dankbarkeit.

Wir waren noch hier gebraucht, das ist der einzige Grund, warum wir heute Silvester erleben. So wäre auch zu überlegen: War ich brauchbar, war ich hinderlich? Und im Blick nach vorn ist was besser zu machen. Ein, zwei Sachen, werden mir doch einfallen. Das bin ich schuldig: Ich will so gern noch hier sein auf dieser schönen armen Erde, will förderlich sein, will Erneuern betreiben, und Frieden mit beschaffen. Also wenigstens ein Vorhaben mir selbst zu versprechen, ist ein Muß.

Der Augenblick ist dein! Mehr haben wir nicht zur Verfügung, als diesen Takt Zeit. Und er ist so wichtig. Durch dich hindurch bahnt sich der nächste Schritt des Seins. Und es soll hier einen Hauch besser werden durch dein Zutun.

Sagt Herrchen zum Hund, der sein Geschäft erledigt: Laß dir Zeit! Und zerrt ihn nicht weg; gut so. Dies nehme ich als Mutmach-Bild: Auch mir, dir ist gesagt: Es ist dir noch Zeit gelassen, gern hier zu sein, bei diesem deinem Tun, allein oder mit diesem Menschen, an diesem Ort. Der Augenblick mag dich begeistern oder schmerzen, er ist wichtig, er ist einmalig durch dich. Dein Fühlen, Kämpfen, Hoffen, Wirken gibt jedem Zeitspann Inhalt und Gewicht. So ist jedes Jetzt zu schade für freudlose Eile. Das neue Jahr beschere dir eine Fülle unwiederbringlicher vollständiger Jetztzeit. Und liebe gut, lache gut, mache deine Sachen gut.

Der Autor war Pastor in Keitum auf der Insel Sylt. Sie erreichen ihn unter: [email protected]

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