Traugott Giesen Kolumne 16.04.2005 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Welche Wahrheit meinen Sie?

Wieviel Aufrichtigkeit ist bekömmlich? Allein die Frage ist für strenggläubige Christen und Philosophen schon ungehörig. Denn alles was nicht aufrichtig gesagt ist, ist unaufrichtig. Und so die Rigorosen: Es kann nichts Richtiges am Falschen sein; entweder schwarz oder weiß, ja oder nein. Auch Jesus sagt das so: Eure Rede sei ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, ist vom Übel.

Aber er sagt auch: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. Ich verstehe es so: Wir sollen reinen Herzens sein und doch nicht dem Nächsten alles auf die Nase binden, nicht alles müssen wir ins Schaufenster stellen. Wahrhaftig sein, ja - aber es gibt eine Wahrheit des Gerichtssaals und eine des Schlafzimmers. Die Wahrheit eines Wetterberichts ist Exaktheit, die eines Gedichts ist Poesie, die eines Kommentars ist Klugheit und die eines Krimis ist Spannung. Und die Wahrheit der Liebe, der Freundschaft ist Aufrichtigkeit.

Dietrich Bonhoeffer erzählte: Der Lehrer fragt den Schüler morgens: "Na, hat dein Vater heute nacht wieder betrunken im Graben gelegen?" "Nein", sagt der Schüler, "er ist gut zurecht." Da ist der Junge in der Wahrheit, der Lehrer nicht, auch wenn der Junge notgedrungen zu den falschen Mitteln griff. Noch besser wäre gewesen, er hätte den Lehrer gefragt: "Fragen Sie aus Neugier oder aus Menschenliebe?" Oder: "Haben Sie ihn gesehen? Dann hätten Sie ihm sicher rausgeholfen und brauchten nicht zu fragen." Oder: "Und wie bewältigen Sie Ihre Probleme?"

Frage ist auch: Wer hat ein Recht auf deine Wahrheit? Es ist ein Unterschied, ob einer dir zuhört oder dich verhört. Ob du einem was versprichst oder ob einer auf deine Versprecher lauert. Und was ist im Geschäftsleben? Da muß man doch aufrichtig auf kauflustige Kunden lauern.

Der Gebrauchtwarenhändler muß die Schlitten loswerden zu gutem Preis, sonst verhungert er. Auf wie viel Mängel aber soll er aufmerksam machen? Er muß den Andern ehren als Kunden, der sich gut bedient wissen soll. Sich darum auch nicht beschweren kommt, sondern sogar mal wiederkommt und den Laden weiterempfiehlt, was dann über die Zeit hin auch ein gutes Geschäft wird. Der langfristig denkende Geschäftsmensch muß einen Preis nehmen, der dem Kunden günstig scheint. Und der dem Händler ermöglicht, weiter sein Geschäft zu führen. Auch der Kunde muß Interesse daran haben, daß der Händler nicht pleite geht, sonst hat er zwar ein Schnäppchen gemacht, aber wenn dieser Anbieter sich vom Markt verabschiedet, schrumpft die Vielfalt, und der Preis wird steigen. Also wahr ist der Preis, der beiden nutzt. Eigeninteressen und Aufrichtigkeit passen zusammen, wenn beide Parteien gleichgewichtig miteinander umgehen.

Aufrichtig sein, ist ohne Lüge auszukommen. Doch es gibt vielschichtige Situationen, wo Ehrlichkeit Verrat wäre oder Gewalt. Und es ist auch Gewalt, festgenagelt zu werden auf einen Satz. Liebe läßt Raum und Zeit. Wir sind ja erst im Werden. Wir sind immer mehr als wir scheinen.

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