Traugott Giesen Kolumne 22.05.2004 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Der eine wird Gewaltt�ter, der andere bleibt Zuschauer

von Traugott Giesen

An einer S-Bahn-Station in Hamburg schubst ein junger Mann eine Frau vor die Bahn. Eine Überwachungskamera hält fest: Unvermittelt, ohne Wortwechsel oder vorherigen Kontakt stößt ein Mensch einen anderen vor den anfahrenden Zug, eine Sekunde eher - und die Frau wäre vor den Triebwagen gestürzt. Wie kann das angehen? Ein Mensch bringt einen andern fast zu Tode und geht weg, als wäre nichts geschehen.

Da bekommt man doch Panik. Der neben uns kann uns vor die Bahn werfen, der hinter uns einen Colt in uns entleeren, der über uns wirft einen Stein von der Brücke, der unter uns dreht den Gasherd auf und das Haus fliegt in die Luft. Wenn es nicht auch Engel gäbe, nicht zu knapp, dann wären wir schon ausgerottet.

Die Zeitungen melden, der junge Türke habe zugelangt aus Frust. Dies Wort steht für alle die Gründe von Wahnsinn, die wir im einzelnen gar nicht mehr auseinander halten, schon gar nicht heilen können; steht für: Enttäuschung, Versagen, Verachtet werden, eine Niederlage mit einer Gewalttat überdecken wollen, sich selbst und anderen den Starken vorspielen, einen Augenblick Täter sein, nicht mehr nur Opfer, lieber gefürchtet als verlacht sein.

Das Rätselhafte ist, warum die einen Frustrierten zu Schlägern werden und die andern halten ihren Druck aus, fliehen in Traumwelten oder verstecken sich, geben klein bei und fressen ihr Leiden nach innen. Die einen morden, andere nehmen sich selbst das Leben. Die einen wenden ihre Gewalt nach außen, die andern nach innen. Zerstörte sind beide. Das Wunder ist, wie viele Bösgemachte doch noch an sich halten können, immer noch die Faust nur in der Tasche ballen. Und wie viele werden gerettet durch Liebe. Wie viele Frauen stellen sich schützend vor die Kinder; wie viele Kneipenwirte sind Friedensfürsten, wie viel Gewalt wird aufgesogen durch Kumpel, die den Schwierigen nicht aufgeben. Und Lehrer stellen zur Rede, zeigen dem Gezeichneten, dass er doch was taugt. Und Pastoren öffnen wieder einen Jugendkeller trotz maulender Nachbarschaft.

Jede Ohrfeige, jedes grobe Foul, jeder Raub, jede einzelne Gewalttat ist schon zuviel. Aber wir kommen doch von Mördern. Wir sind die Überlebenden von Siegern, andere sind längst ausgestorben. Wir haben so viel Unducht im Herzen, Neid und Hass kochen hoch. Vielleicht hast du dein Notwendiges und mehr, unbestritten; dich überschwemmt keine Scham, du bist ja erfolgreich, du bist gefragt. Aber die im Dunklen sieht man nicht. Und der Terror der Bilder stachelt an, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Der eine wird Gewalttäter und ich, du nur Voyeur.

Was tun? Jesus sagt: Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann biete die Linke auch dar, wenn einer mit dir rechten will um deine Jacke, dann gib ihm auch das Hemd. Wir aber drücken uns weg, lassen die mit Frust allein in ihrer erbitterten Hilflosigkeit. Dann greifen sie sich einen, irgendeinen und warum nicht mich? Nicht dich?

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