Traugott Giesen Kolumne 24.08.2002 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Der Nächste so nah so fern

Das soll mir klar sein: Wenn kein Schlamm in meinem Wohnzimmer steht, wohl aber beim Nachbarn, dann muss ich ihm helfen - sagen wir zehn Stunden, besser wäre mehr. Es ist ja nicht nur das Wohnzimmer, sondern das ganze Haus, der Garten und der Keller sowieso. Er braucht zur Heilung doch ein halbes Jahr. Und was ihn das alles kostet, die Helfer, die Handwerker, das Material, die neuen Sachen. Aber gut, zehn Stunden. Ein Tropfen. Aber zehn Stunden Handanlegen, einen Tag Arbeit will ich ihm geben. Will selbst hingehen. Oder was effektiver ist: Ich will ihm zehn Stunden Arbeit geben, den Gegenwert von zehn meiner Arbeitsstunden.

Brutto oder netto? Mit Spendenquittung? Furchtbar, schon wieder das Rechnen. Jesus sagte mal: Tu Gutes und lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut. Gut, sofort hinzugehen, anzufassen; doppelt hilft, wer schnell hilft. Aber auch gut, zu geben, und andere, professionelle Helfer die Arbeit machen zu lassen. Und nicht kontrollieren, nicht Rechenschaft fordern, nicht die neue Tür sich vorzeigen lassen, die genau von meinem Geld besorgt wurde.

Vielleicht ist die andere Art von Helfen ja besser: Hinfahren, persönlich. Dann übernimmt man natürlich mehr Verantwortung, man wird ja Retter, wird in die Familie mit eingesogen, bleibt am Ende noch am liebsten da, wo Hilfe so konkret gegeben werden konnte. Und wo noch ein Mann oder eine Frau zählen, die nicht diskutieren, sondern putzen, säubern, neu errichten.

Begeisternd, wie Menschen hinfahren, das Auto voll Putzmittel, und eben noch Wildfremden die Küche entschlammen, alles abwaschen, die Fenster reinigen. Oder anderswo wieder Sandsäcke leeren und Barrikaden abbauen. Die vielen Ehrenamtlichen von Feuerwehr, THW, Rotem Kreuz, die Soldaten, Soldatinnen - sie werden noch weiter helfen. Doch die Kraft geht zu Ende, die Freistellungen auch. Jetzt muss noch ein Aufbau Ost her, noch mal müssen wir per Steuern ran.

Die große Hilfsbereitschaft ist beglückend. Die hunderttausenden Spender reißen hoffentlich die Millionen Festhalter noch mit zur Güte. Die nötigen Milliarden wird man dennoch nur per Umlage aufbringen, die nicht nach Lust fragt. Und richtig so, schließlich sind wir alle Mitauslöser dieser Naturkatastrophe; wir werden noch auf viel mehr verzichten lernen, damit der Naturhaushalt nicht völlig umkippt. Dass wir unseren Landesgenossen beistehen, etwas mehr als schattenhaft, ist schon der Rede wert. Aber wir werden auch über deutsche Grenzen Hilfe schicken, einfach, weil Menschen bitten. Es kann uns nicht gut gehen neben Elend. Was Menschen in Not fehlt, sind die im Überfluss ihnen schuldig.

Keiner braucht Angst zu haben, so viel zu verschenken, dass er dann selbst zum Bettler wird. Da hält uns unsere Natur schon von fern. Und nur wer Selbstmitleid kennt, kann auch für andere etwas empfinden. Unsere Güte hat noch Spielraum.

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