Traugott Giesen Kolumne 06.07.2002 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Das Grauen vom Himmel

Mittags der Empfang des Vizeweltmeisters, in der Nacht dann der Absturz zweier Flugzeuge mit 71 Toten. Eben noch das Jauchzen, jetzt das Weinen. Eben noch die Freude, der Glanz, der Jubel, jetzt der Jammer über so viel ausgelöschte junge Leben. Das Himmelhochjauchzend und das Zutodebetrübt prallen hart aufeinander. Es ist kaum zu ertragen, weil kaum zusammenzuhalten. Doch Menschen mit Vertrauenswissen setzen auf einen Gott, der das alles umfasst. Der die Freuden und die Schmerzen des Lebendigen am eigenen Leib erfährt. Der ist das Bewusstsein der Welt. Wir Menschen, einzeln und zusammen, fühlen auch was, aber wir sind nur Zellen, Synapsen, Glieder. Der alles in allem fühlt und weiß, wird Gott genannt. Alles lebt aus ihm, vor ihm, durch ihn, zu ihm. Abgelöst von allem, ist er nicht zu haben; für sich allein, ist er nicht zu sehen. Aber er ist, um alles in der Welt, sonst zerfiele doch alles zu Nichts.

Als der große Allmächtige im Himmel ist er uns verloren gegangen. Unsere Vorfahren dachten, er könne alles, auch ganz anders. Nach Auschwitz, und Gulag und Pol Pot wissen wir - so hat es ihn nie gegeben, er war ein Traum des kleinkindlichen Glaubens. Der Allmächtige war ja auch die Ausrede für all die menschlichen Gräuel. Wir fragten: Wie kann Gott das zulassen? Und widmeten uns weiter unseren Geschäften.

Gott ist anders. Er ist alle Macht, alle Energie, er ist die Power der Naturkräfte und die Lust der Freudentänze und ist auch die fehlgesteuerten Routen der Flugzeuge. Er ist das Lebendige in allem Fleisch, er ist die Liebe und der Mangel. Er liebt in den Begeisterten und darbt in den Einsamen.

Gott litt in Kahn, als der am Pfosten wie ein Häufchen Elend saß und tanzte in Ronaldo. Er weint in den russischen Eltern und atmet auf in den Verschonten von Überlingen. Auch den Schmerz derer fühlt er als Stück von sich, die zu spät den Kollisionskurs bemerkten und zerknirschten Gewissens sind.

Gott weiß die Welt, er weiß auch mich und dich, je mit unseren Zerrissenheiten. Und gibt an uns Mutmachstoff aus, heiligen Geist, Schlaf, aufatmendes Seufzen, Freundschaft, Streicheln von der Haut bis in die Seele, Stücke Verstehens, Nachdenken, Musik und Anteilnahme. Anteilnahme besänftigt, es ist so. Jeder hat seine Tröstungen, manchmal hilft auch Ungewissheit. Und das "Licht des Lesens" (P. Handke). Gut ist das Kommenlassen des nächsten Tages und die stille Hoffnung, dass der schon für das Seine sorgen wird.

Manchmal schlägt Leid so nah neben Glück ein, dass der Schrei gellt: Warum ich, warum denn? Denk bitte nicht an Schuld. Weder hast du dein Leid dir eingebrockt, noch dir dein Glück verdient. Leid und Glück kommen über uns, sie müssen getragen und geteilt werden. Und Leid ist nicht alles. Schon tief im Leid fängt Aufatmen an. Der Trostvogel singt schon, während die Nacht noch dunkel ist.

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