Traugott Giesen Kolumne
16.09.2000 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Steine sammeln, Steine zerstreuen
Die Bibel hat auch einen Prediger, den
des König Salomos, wahrscheinlich eine Kunstfigur, um der Sammlung
aufgeklärter Gedanken einen renommierten Namen mitzugeben. Bekannt
ist der Text: �Alles hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel
hat seine Stunde: Geboren werden und sterben, pflanzen und ernten, töten
und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Steine
sammeln und Steine zerstreuen, herzen und ferne sein von herzen, zerreissen
und zunähen und, und... hat seine Zeit.�
Das Normale kommt und geht, Ebbe und Flut,
Mangel und Fülle, Einatmen und Ausatmen ist das Leben; wie heisst
es im Film �Die drei Musketiere�: �Man kann nicht leben, bis alle Flaschen
leer sind�. Wir werden gross und wieder klein. Wir haben gesammelt und
es wird wieder zerstreut.
Eine besondere Übung für Sammeln
und Zerstreuen, für Einnehmen und Ausgeben ist der Gang am Flutsaum
längs. Gern begutachten wir, was das Meer an Land spuckte. Muscheln,
Steine, stumpf geschmirgelte Glasscherben � besonders schön die blauen
Scherben, ob sie noch von den früheren Nivea-Ölfläschchen
stammen? � aber auch Seesterne und Krebse, besondere Hölzer, und natürlich
wacht das Auge, ob es Bernstein findet oder gar eine Flaschenpost.
Spätestens zur Heimreise muss sortiert
werden, was des Aufhebens wert scheint. Eigenartig: Schon einen Tag später
haben die meisten Funde an Glanz verloren. Nässe liess Steine funkeln
und Muscheln schillern, auch die Hölzer, getrocknet, scheinen verloschen.
Und die Situation des Findens ist schon vergessen, die doch den Fund mit
Wichtigkeit auflud. So küren wir dann einige Handschmeichler als Sammlerstücke,
einige bizarre Muscheln, ein, zwei Scherben. Zuhause legen wir sie zu den
Funden der vergangenen Jahre, Jahrzehnte. So vermehren wir auch unsern
Besitz und die Menge, die wieder verstreut, verzettelt, verteilt, entsorgt
werden muss.
Einige Zeitgenossen sammeln, was sie finden.
Sie stapeln und schichten, sie heben auf und lassen nicht los. Irgendwann
sind sie eingemüllt bis obenhin und kommen nicht mehr aus ihrer Wohnung
raus. Es gibt aber auch Menschen, die leben mit leichtem Gepäck �
die junge Floristin, die nach Israel aufbricht und alle ihre Habe auf eine
Rucksackfüllung reduziert, aber auch Menschen im Kloster, denen ohne
Besitz doch genug zur Verfügung steht.
Brauchen wir, was unsere Schränke
und Zimmer füllt? Eine Gier zu haben, lässt uns halten und behalten
� Bücher, Werkzeug, Schuhe, Kleidung, Weine, Liebesbriefe, Fotos,
Geschäftspapiere, schöne Dinge. Wenn Erinnerung an den Dingen
haftet, sollen sie bei uns bleiben, um uns dankbar zu stimmen in vergesslicher
Zeit. Wenn sie aber nur zu ungenutztem Zeug geworden sind, sollten wir
sie einem guten Zwecke zuführen. Mal den Arbeitsplatz sauber hinterlassen,
wäre nett.
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