Keitumer Predigten Traugott Giesen 03.11.2002
Das Stellvertretende in der Welt: Abraham handelt mit Gott wegen Sodom; Lots Frau wird zur Salzsäule 1. Mose 18,16-19,26
Gott sprach zu Abraham, seinem Auserwähltem, von dem her mit Sara ein großes Volk werden sollte: "Es ist ein Geschrei über Sodom und Gomorra, dass ihre Sünden sehr schwer sind. Darum will ich sehen, ob ich sie strafen muß."Abraham versuchte, es dem Herrn auszureden, wollte seinen Strafwillen aushebeln und fragte: "Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?" Und er bedrängte Gott, um der wenigen Guten willen die Stadt zu verschonen.- Bewegend, wie Abraham sich einsetzt für Sodom, diese verrufene Stadt. Ein Zwiegespräch wie unter Händlern im Basar entwickelt sich:
"Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die mit umbringen und nicht lieber dem Ort vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären?" Der HERR sprach: "Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben. "
Abraham antwortete und sprach: "Ach, siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin. Es könnten vielleicht fünf weniger als fünfzig Gerechte darin sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen?" - Herrlich, es scheint nur noch um fünf Aufrechte zu gehen: Das kann nicht wahr sein, dass Gott doch sie alle bestraft, wenn die fünf fehlten, aber der Gott dieser Geschichte rechnet dann doch akkurat: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht verderben. Und Abaham fuhr fort mit ihm zu reden und sprach: "Man könnte vielleicht vierzig darin finden." Er aber sprach: "Ich will ihnen nichts tun um der vierzig willen." Abraham sprach: "Zürne nicht, Herr, dass ich noch mehr rede. Man könnte vielleicht dreißig darin finden." ... und er handelt Gott auf zehn gerechte Menschen herunter, um deretwillen er die Stadt verschonen wolle
Eine der grundlegenden Geschichten der Menschheit: Wie auf der Waage der Gerechtigkeit die Liebe eben eins zu tausend richten kann; Zehn retten Hunderttausend. Und später dann: Einer, in Gestalt des Jesus, trägt die Sünde der Welt, Gott wirft sich in die Waagschale und rettet seine Menschheit durch den Tod hinüber ins kommende Reich.
Das Stellvertretende in der Welt - ein großes Thema, - die palästinischen Selbstmordattentäter reißen die gerade zufällig neben ihnen Stehenden in den Tod. Die Israelischen Soldaten erschießen aus Rache junge Steinewerfer. Das Attentat vom 11. September sollte die westliche Welt bestrafen für ihren Ungehorsam gegen Allah. Die Vernichtung des Regime in Afghanistan mit dem Tod tausender Zivilpersonen - alles stellvertretend. Als der SS-Oberste Heidrich erschossen wurde, brannte man zur Strafe das ganzes Dorf Lidicze nieder, wo das Attentat passierte, tötete alle Männer. Das stellvertretende Rächen ist menschlich. Das stellvertretende Vergeben müssen wir noch lernen.
Vielleicht musste es Gott auch erst lernen. Es kann sein, dass Gott erst mit den Menschen zu sich selber kam, sich zu sich selbst entwickelt, er das moralische Wesen überhaupt wurde, durch Zwiesprache mit den Menschen. Wie Männer erst verantwortliche Wesen werden während ihres Vaterseins.- Abraham handelt Gott seine Rache - seine Strafgelüste herunter. Aber diese Idee, Gott wachse am Menschen zu sich hinauf, denkt doch zu hoch vom Menschen- obwohl: Auch wenn Gott sein Bild von sich mit dem Menschen entwickelte, wäre doch Gott der Urheber. Wie Abraham dem Herrgott seine Straflust herunterhandelt. Das ist schon ein Traumstück.
In Wirklichkeit erzieht Gott sich die Menschheit, schafft uns zu seinem Bild, uns ihm ähnlich im Wesen: Gott arbeitet noch an uns, macht uns liebevoll, indem er uns mehr von sich aufgehen lässt. Nicht Gott erkennt mehr von sich, sondern wir erkennen mehr von Gott und damit von uns. Weit vor uns dachten sie, die Welt sei voller Götter. Bis Abraham den einen Gott anbetete, und wir lernten, Gott ist das, der Ganze - ist auch mehr als das Gute, er ist der Lebendige, seine Macht umgreift auch das Böse, auch der Tod gehört zum Hause des Herrn. Gott lebt das Leben, auch mein, dein Leben ist eine Phase in Gott. - Wir lernen ihn kennen im Laufe der Zeit. Jesus bürgt dafür, dass er Liebe ist, obwohl noch viel Liebloses passiert. Aber was noch nicht gottvoll, sinnvoll, heilvoll ist, soll es noch werden.
Zunächst bleibt es offen, ob Sodom verschont
wird. Ob zehn Gerechte gefunden wurden in dieser Stadt? Ob ich, du dazu
zählten, wenn in unserm Dorf, unserer Stadt zehn Schuldlose gesucht
würden. Ich würde nicht dazugehören, ich weiß es. Aber
straft Gott denn? Hat er über uns Deutsche die totale Kapitulation und
34 Jahre russische Besatzung über Ostdeutschland verhängt als Strafe
für den zweiten Weltkrieg? Dann hätte auch ein Freispruch dabei
rauskommen können oder ein ganz anderer Geschichtsverlauf? Gott straft
nicht in einem zusätzlichen Gerichtspruch sondern: "Ihre Taten folgen
ihnen nach" (Offenbarung 14,13). "Und womit jemand sündigt, damit wird
er auch bestraft" (Weisheit 11,16); "Man wird sich selbst zur Last, mehr
als die Finsternis" ( Weisheit 17,20). "Gott gibt uns dahin an die Folgen
unseres Tuns" ( Römerbrief 1,24-28), "dass wir uns bessern sollen" (Weisheit
11,23).
Es ist nicht unsere Sache, das Unglück, das andere traf, Strafgericht
Gottes zu nennen. Wohl kann ich mich als Gestrafter sehen, kann das Unglück
sehen als mit meiner Schuld zusammenhängend, kann das Leid mir als
Buße auferlegt sehen - wie viele Überlebende des Hitler-Regimes
die Kapitulation Deutschlands als gerechte Strafe Gottes annahmen. Und Besserung
gelobten. Aber Gottes Weltgericht in der Geschichte vollzieht sich gegen
unsere Beurteilungen. Denn wir sind Beteiligte, und nicht Prozessbeobachter.
Ich kann meinen Unfall als mit Gott geschehen glauben, was darin das Leben,
Gott, das Schicksal mir sagt, bleibt mein Geheimnis. Da kann nicht ein Pastor
mir was verkünden, als hätte er am Ohr des Herrn gesessen.
Sodom und Gomorrah ist untergegangen - vielleicht ein Vulkan - die Nachbarn meinten, deren Sittenleben sei so verrucht gewesen, dass Gott sie dafür gestraft habe. Vielleicht, um sich selbst an der Kandarre zu halten, wer weiß. Aber der Gott der Liebe will nicht zerstören sondern verschonen und heilen. Das wird am Weitergang dieser biblischen Geschichte deutlich:
"Als nun die Morgenröte aufging, drängten die Engel Lot zur Eile und sprachen: Mach dich auf, nimm deine Frau und deine beiden Töchter, die hier sind, damit du nicht auch umkommst in der Missetat dieser Stadt."Als er aber zögerte, ergriffen die Männer ihn und seine Frau und seine beiden Töchter bei der Hand, weil der HERR ihn verschonen wollte, und führten ihn hinaus und ließen ihn erst draußen vor der Stadt wieder los. Und als sie ihn hinausgebracht hatten, sprach der eine: Rette dein Leben und sieh nicht hinter dich, bleib auch nicht stehen. Auf das Gebirge rette dich, damit du nicht umkommst! Da ließ der HERR Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra und vernichtete die Städte ringsum und alle Einwohner. Und Lots Frau sah hinter sich und ward zur Salzsäule."
Auch ein Urbild unserer Seelenlandschaft. Mörgenröte, Einladung zur Flucht, Drängen, dass vorne Neuland, neues Leben warte, jetzt geh los, rette dich, renn um dein Leben. - Und du kommst nicht los, du bleibst stecken im Vertrauten, du brichst die Reise ab. Du willst bleiben in der Heimat. Jetzt nicht innehalten, du hast gepackt, du musst los wollen.
Hundertmal hast du es dir gewünscht, und immer wieder bist du geblieben im den Pflichten, im Vertrauten, beim Anvertrauten, aber jetzt treiben dich die Engel zur Eile. Jetzt renn um deine Rettung. Und du gehst los, - aber brichst ab. Drehst dich um. Und wirst gebannt von deiner Vergangenheit. Du versteinerst, wirst die Salzsäule, die im Salz der Tränen Erstarrte.-
Nicht mal einen eigenen Namen hat die Frau, nur "Lots Weib" heißt sie, die Salzsäule - so überpersönlich allgemein ist ihr Leiden. Jesus sagt es mal so: "Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt fürs Reich Gottes" (Lukas 9,62). Noch zugespitzter: "Einer sagte zu Jesus: 'Ich will dir folgen, wohin du gehst, aber lass mich zuvor meinen Vater begraben". Da sagt Jesus: "Folge du mir, lass die Toten ihre Toten begraben" (Matthäus 8,22).
Brutal klar ist hier das Jesus-Prinzip: Vorne ist alles. Was du aus deiner Herkunft machst, ist wichtig. Was kommt, zählt. Du kriegst nichts für Vergangenes. Nichts Totes ehre! Du bist nicht dazu auf der Welt, dass du das Vergangene lebendig hältst. "Nur wer vergessen ist, ist tot" - ist bei den Ägyptern vielleicht richtig gewesen. Wir wissen, dass die Toten vorweggenommen sind in die Zukunft, sie sind im Leben, wir brauchen ihre Erinnerung nicht pflegen, wie ein Grab.
Weinen über das Verlorene, das nimmt mir zum Verlorenen noch die Gegenwart, das Beweinen meines Verlassenseins versteinert mich. Geh, lebe, liebe, lache, teile, red, höre zu, dem Lebendigen. Wir müssen Lebende lieben, darin ehren wir am Besten die Toten. Wenn wir den Toten unsere Liebe nachtragen, dann nehmen wir sie Lebendigen weg, versteinern selbst, werden Mumien.
Zurückblicken und merken wie die Politik von damals unsere Gegenwart heraufführte ist schon hilfreich, um zu erkennen, wo wir heute gelandet sind, wer wir heute sind. Die Erinnerung an unsere Kindheit klärt, wie wir geworden sind. Aber Erinnern schiebt vor allem nach vorn. Erinnern lehrt, wir waren schon früher auf dem Weg, ich zu werden. Niemals war da ein heiler Ursprung, immer nur Anfang: wir werden also weiter gehen müssen, um heute ich selbst zu werden, über den von gestern hinaus. Nichts gegen leuchtende Erinnerungen, aber auf dem Vorwärts-Weg, nicht als Verweigerung von Gegenwärtigsein.
In der Bibel wird davor gewarnt, der Propheten Gräber zu schmücken, anstatt heute und jetzt prophetisch zu denken. Was ist Prophetie für dich: Sieh nach vorn. Da ist Verheißung für dich. Und du bist eine Verheißung für das Künftige.
Natürlich sichern wir uns in den Freundschaften, in den Lieben, die bis eben gültig waren. "Aber heute, so ihr Gottes Stimme hört, verstocket euer Herz nicht" (Psalm 95,8). Heute! Gottes Stimme, rettend, heilend, verheißungsvoll, heute Wind für deine Zukunftssegel. Also nicht zurücksehen, zurückblättern, nicht alte Predigten halten, alte Liebesbriefe für neue Lieben abschreiben. Nicht nach alten Fahrplänen heute die Züge fahren lassen wollen.
Jeder Glaube ist ein Gefäß, das auch zerbrochen werden muß. Stell dich nicht nur den lösbaren Aufgaben - lösbar mit deinem angesammelten Wissen. Schlag dich auch mit Fragen rum, in deren Antworten du erst hineinwächst. Wir sind doch in Entwicklung. Und es sind die Engel der Seele, die uns sagen: "Jetzt hast du ausgeschöpft, was an Lernstoff hier möglich war. Jetzt ist deine Erfahrung zu deiner Befriedigung abgeschlossen. Jetzt geh weiter. Und bleib nicht angewurzelt als wärest du Baum, Du verliderlichst (R. Walser) sonst oder versteinerst." Du, achte auf deinen Engel, der dich rauszerrt ins Freie, weg vom Tretmühlenweg. Und dann schau nicht zurück, geh deiner Wege, vor Dir gelobtes Land.