Keitumer Predigten Traugott Giesen 04.08.2002
Fürchte dich nicht, vertraue nur! (Markus 5,36)
Über hundert Male bewahrt die Bibel den lebensrettenden Befehl Gottes oder des Christus: "Fürchte dich nicht!" Und es ist Gehorsam verlangt, nur ein wenig Gehorsam. Dann bist du über den Berg, bei neuen Pflichten und Freuden, bist entronnen dem, was dir Angst eingab, was dich einengte und beklemmte, jetzt jedenfalls, nicht für immer, nicht im voraus, aber jetzt. Nur einen Tick gehorsam: Wie beim Impfen - "fürchte dich nicht!" - und während das Kind noch dem Schall der Stimme Achtung beimißt, ist der Schmerz schon abgezogen, der Schreck liegt hinter ihm." Fürchte dich nicht; vertraue nur" - sagt Jesus einem Vater, Synagogenvorsteher in einem Städtchen am See Genezareth. Der war zu Jesus gelaufen, fiel ihm zu Füßen: "Meine Tochter liegt schwer danieder, komm doch und lege deine Hände auf sie, damit sie gesund werde und lebe." Doch da kamen Nachbarn gelaufen: "Bemüh den Meister nicht weiter: Dein Kind ist tot." Da sagte Jesus den Leuchtfeuersatz: Fürchte dich nicht, vertraue nur!", und sie eilten zum Haus. Da war Getümmel. Und Jesus sagte: "Sie schläft nur!" Da verlachten sie ihn, er aber sprach zu dem Kind: "Mädchen, steh' auf." Und sie stand auf und ging auf den eigenen Beinen. (Markus 5,21-43 in Auswahl)
Es kommt mir nicht auf den Wunderbarkeits-Grad an, den Jesus auslöste. Sondern dem Jesus nach, lasst uns Wunder erleben, wenn wir Furcht ablegen und vertrauen. Und dass das geht, bezeugt die Christenheit seit 2000 Jahren, wir müssen nur miteinander lernen, Vertrauen zu geben und zu nehmen.
Allerorten ist Furcht. Starr vor Angst sind viele. Die Praxen sind voll von Menschen mit diffusen Angstzuständen, also nicht festgemacht an einer konkreten Angst, etwa der vorhandene Krebs oder ein zum Randalieren neigender Ehemann. Viele Male wird man nachts wach. Sieht sich umhängt mit Fetzen irrer Träumen, bemerkt sich beim Grübeln mehr und mehr, ist gereizt, die Arbeit wiegt schwer, die Freunde scheinen auszuweichen, man geht selber schneller weiter, man will nicht mit seinem Schrott belasten. Und nach dem 11. September scheint vielen der Boden unter den Füßen wie weggezogen.
Es ist ein Beben durch die Menschheit gegangen, Undenkbares passierte vor unser aller Augen, und wird hunderte Male wieder abgespielt, ist auf unseren Netzhäuten eingebrannt. Was auch wir sonst noch sehen: Herrliche Kinder, glückliche Sommerabende - es bleibt dieser Alptraum menschlich verschuldeten Leides, und jedes Flugzeug in der Luft könnte eine Bombe sein. Doch: Fürchte dich nicht, vertraue nur! Darf ich das mir sagen? Darf ich das einem zitternden Zeitgenossen ins Bewusstsein drücken?
Furcht ist erst mal ein Warnsignal, Furcht macht hellwach, stellt Atem zur Verfügung, - das schreckvolle jähe Luftholen bei weitaufgesperrtem Mund beschafft ein Sauerstoffpolster, die Muskeln sind gespannt, damit du wegspringen könntest. Ist die Gefahr erkannt , und ist sie gebannt, dann wird man eigentlich ruhiger. Kann man die Zeichen deuten, ist das schon Anfang von Hilfe. Die Zeichen deuten...
Der Psychiater Erik Erikson erzählt davon eine Geschichte (wiedergegeben in Publik-Forum 14/02): Alle kleinen Indianerjungen müssen irgendwann allein im Zelt in der Wildnis übernachten. Und dann kommt das große Erschrecken: Von vielen Seiten dringen auf den Kleinen unheimliche Geräusche ein: Kreischen und Fauchen, Brüllen und Rascheln, die wildesten Schrecknisse steigen ihm zu Kopf. Er könnte vor Furcht vergehen. Dann kommt Hilfe von außen: Der Vater weiß, wie es dem Kleinen ums Herz ist, er tritt ins Zelt, nimmt den Sohn bei der Hand, führt ihn nach draußen, sucht mit ihm die Quellen der Geräusche, er sieht von weitem den fauchenden Panther, er sieht die schreiende Eule, die brüllenden Hirsche, und langsam legt sich die Angst des Jungen. Er weiß, wer die Geräusche macht, und dass die Stimmen gar nicht nach ihm rufen.
An die Quelle der Geräusche und Beschwerden gehen, das hilft gegen eine Reihe von Ängsten. Auch zum Arzt gehen und abklären lassen, - ja , wer nicht wissen will, was er hat, und was man dagegen tun kann, der muß das Unbehagen wachsen lassen, bis es ihn hintreibt. Bei Krankheiten ist Furcht, die zum Arzt treibt, zu 98 Prozent erst mal lebensrettend. Es wäre eher Lästerung zu sagen: "Fürchte dich nicht, vertraue nur" - wo du wissen kannst und sollst. Dein Nicht-wissen-wollen verbräme nicht als Vertrauen. Deine Gesundheit darfst du nicht aufs Spiel setzen, sie ist ja gar nicht deine.
Trau' dich gern zu wissen, was die Stimmen, was die Zeichen meinen: fürchte dich nicht vor Klärung. Vertraue, dass du mit allem Wissen in Gottes Hand bist, er geht die Wege mit. Letztlich laufen die Wege nicht in Feindesland, sondern im Hause des Herrn.
Ja, einige Stimmen kann man entschlüsseln, kann etwa zu den neuen Hausbewohnern und Nachbarn ein Verhältnis kriegen. Vertrau! Geh auf die Fremden zu. Du bist doch der Sichere, der Behauste, und es sind doch auch Menschen mit Lust, gemocht zu werden; sie möchten geachtet werden und auch achtbar sein, also trau dich hin, brich das Schweigen, gib ein Signal: Früher brachte man Brot und Salz - eine Flasche Rotwein kann auch dabei sein - zum Zeichen: das Lebensnotwendige möge dir nicht ausgehen, auch gute Nachbarschaft nicht.
Und wenn du eine Prüfung vor dir hast, fürchte dich nicht vor der Prüfung. Sie zeigt dir, was du kannst, und was noch nicht. Vertraue, dass die Prüfer dich nicht auf dem Kieker haben, sondern dich fair behandeln, es sind Gottes Mitarbeiter, warum sollen sie dich rauskegeln wollen. Aber wenn du kippst, lass es dir zum Besten dienen; leg noch mal los.
Auch wenn eine Liebe zerbricht - da ist viel Furcht bei -, aber vertraue, dass die Liebe weiter mit dir auf dem Weg ist, auch wenn du es nicht ausdenken kannst. Wenn es anders kommt als wir's erbitten, kommt es besser" so Luther. Wir wissen gar nicht, was wir richtigerweise bitten sollen, wir haben Wünsche, Ideen, Nöte. Paulus sagt mal: Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie es richtig ist, der heilige Geist vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen" (Römer 8,26).
Das Fremde kann man kennenlernen, selbst mit einem Krebs kann man einen Pakt schließen, dass nicht er dich hat, sondern du ihn, - du ihm aber auch Raum lässt bei dir - mal fordert er dir alle Kraft ab, dann aber lässt er wieder von dir ab. Vertraue, dass du noch Zeit hier haben sollst, sieh die Projekte, die noch dich brauchen, die also sehr mit deiner Person veknüpft sind. Nicht einfach nur weiter, weitermachen, sondern erbitte dir noch Zeit, Werdezeit für dich, sag dir und deinen Nächsten und Gott, wofür du noch Frist erbittest, und lass die andern für dich mitbeten.
Und das unangenehme Gespräch, fürchte es nicht: Es zeigt den Raum für euer gemeinsames Beackern, von Zeit zu Zeit müssen Grenzen und Ziele neu verhandelt werden, und immer sind verschiedene Interessen im Spiel, aber ihr werdet besser wissen fortan, was ihr voneinander zu halten habt, werdet euch weniger enttäuschen. Vertraue, dass es dir helfen wird, das Gespräch, und wenn dabei dein Versagen ans Licht tritt, du wirst aufatmen, du wirst stärker sein als vorher, und wenn du deine Arbeit verlierst, dann hast du da lange genug malocht, und es ist Zeit für anderes, darauf vertraue.
Und gefährliche Situationen - wenn du kannst, versuch' sie zu vermeiden. Führe in unübersichtlicher Umgebung keine Juwelen und keinen Nerz spazieren und kein Auto für achtzigtausend Euro - versteh' doch, manche sind sehr in Druck und können sich nicht beherrschen, lock sie nicht an, dann brauchst du sie auch nicht zu fürchten.
Ja, aber wenn nicht dies oder jenes, sondern das ganze Leben gefährlich scheint? Wenn nicht nur einzelne Geräusche Angst machen, sondern du in einem unheimlichen Rauschen dich befindest? Tinitus ist wohl wirklich ein akustisches Ereignis - aber doch auch eins, das die vielen Anrufe und Überforderungen überdröhnt. Es ist Alarm für zuviel. Jedenfalls fürchte dich nicht, zu enttäuschen, fürchte dich nicht, einem Bescheid zu sagen, unter dem du leidest, fürchte dich nicht, Deins zu sagen. Vertraue, dass der andere deine Grenzen besser respektiert, wenn du deutlich Signal gibst: Bis hierher und nicht weiter.-
Und fürchte dich nicht vor dem Altsein. Du wirst Menschen finden, die dir das nötige Gute tun, und irgendwann wirst du dich sehnen, zum Himmel zu kommen, wirst das Leben gerne segnen, vertraue darauf. Und tu jetzt anderen, was du dir dann von anderen wünschen wirst, statt dauernd vor dem Alter Angst zu haben. Und "fürchte dich nicht" heißt auch: lass dich nicht stundenlang mit Fernseh-Angst vollkippen.
Aber es ist so: Leben ist gefährlich. Es ist mehr Hunger als gerechte Verteilung; es ist mehr Sehnsucht als Liebe; in der Natur wächst dauernd was nach, aber muß aus dem Boden gezogen werden, und es ist ein dauerndes Abjagen da - sehet die Möwen. Der Straßenverkehr ist gefährlich, und auf viele richtige Entscheidungen kommt immer auch mal eine falsche. Und die kann folgenschwer sein. Leben ist gefährlich. Aber die durchschnittliche Lebenserwartung steigt und steigt. Verrat lauert, wenn Gewinn winkt, aber Freundschaft wage immer wieder. Ehen können ihren Vorrat an Gemeinsamem verbraucht haben, bevor der Tod sie scheidet. Und doch wage die Liebe, wage das Risiko, wenn es dir für deine Seele wichtig ist. Fürchte dich nicht, vertraue nur, das dir Wichtige ist nicht schlecht. Geh mit dir zu Rate, ob es deins ist, oder ob es dich dir entfremdet. Und vertraue deinem Empfinden, sei klug und ohne falsch, vertraue, dass man so zu dir ist, wie du zu ihnen. Vertraue, dass du mit allen in einer guten Geschichte bist.
Im Ganzen kommt es auf den Mut an, Gott zu glauben, dass er eine gute Welt geschaffen hat mit hinreichend guten Mitmenschen und mit einer Fülle erstaunlichster Begabungen, die - zur Geltung gebracht -, allen nutzen. Und diesen Glauben nimm in Gebrauch. Und sieh dich vom Leben gebraucht, sieh dich als nötig. Fürchte dich nicht, überflüssig und unwichtig zu sein. Vertraue, dass Gott dich liebhat und dich braucht. Für wen, wo, wie? Mensch, es ist deine erste Aufgabe, das zu ermitteln.
Jairus Tochter schien tot, vielleicht war sie von allen Überforderungen des Erwachsenwerdens niedergestreckt. Jesus sagt: "Sie schläft nur." Dann trieb er alle hinaus, bis auf Vater und Mutter: Und nahm des Mädchens Hand und sprach: "Ich sage dir, steh auf." Und sie ging auf ihren eigenen Beinen.- Nehmen wir es doch als Bild: du in deiner Furcht bringst dich um dein Leben. Aber du schläfst nur. Jetzt stehe auf, geh an dein Eigenes, fürchte dich nicht, vertraue nur. Amen.