Keitumer Predigten   Traugott Giesen   28.01.2001

Gemeinschaft des Glaubens

1. Korinther 12:
Über die Gaben des Geistes will ich euch nicht in Unwissenheit lassen.
niemand kann Jesus den Herrn nennen ausser durch den Heiligen Geist.
Es sind verschiedene Gaben; aber es ist e i n Geist.
Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist e i n Herr.
Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist e i n Gott, der da wirkt alles in allen.
In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller;
dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem andern wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist;
einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem e i n e n Geist;
einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen.
Dies alles aber wirkt derselbe e i n e Geist und teilt einem jeden das Seine zu, wie er will.
Denn wie der Leib e i n e r ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch e i n Leib sind: so auch Christus.
Denn wir sind durch e i n e n Geist alle zu e i n e m Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit e i n e m Geist getränkt.
Auch der Leib ist nicht e i n Glied, sondern viele.
Wenn aber der Fuss spräche: Ich bin keine Hand, darum bin ich nicht Glied des Leibes, sollte er deshalb nicht Glied des Leibes sein?
Und wenn das Ohr spräche: Ich bin kein Auge, darum bin ich nicht Glied des Leibes, sollte es deshalb nicht Glied des Leibes sein?
Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör? Wenn er ganz Gehör wäre, wo bliebe der Geruch?
Nun aber hat Gott die Glieder eingesetzt, ein jedes von ihnen im Leib, so wie er gewollt hat.
Wenn aber alle Glieder e i n Glied wären, wo bliebe der Leib?
Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist e i n e r.
Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder auch das Haupt zu den Füssen: Ich brauche euch nicht.
Gott hat den Leib zusammengefügt, damit im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen.
Und wenn e i n Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn e i n Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.
Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied.
Erfahrungen mit Kirche hat jeder gemacht, langweilige, quälende, beglückende. – Die Zahl derer wächst, die völlig unberührt von Kirche sind. Ich weiss einige Hundert der tausend Christen von Keitum/Archsum, die ich niemals in der Kirche sah, es sei denn bei Familienfesten oder Beerdigung des Nachbarn. Dabei sind sie Mitglieder der Kirche. Manch ein Zeitgenosse hat noch keine Kirche betreten, sie fahren an St. Severin vorbei und treten nicht ein, wie andere oft am Tierheim oder dem Hallenbad vorbeikommen, aber sie gehen einfach nicht rein. Sie hören keinen Ruf, haben keine Veranlassung. – Was soll man ihnen sagen, was Kirche ist?
Das Wort „Kirche“ hat das griechische Wort „Kyrios“, Herr, in sich. Also dem Herrn, dem Herrn Jesus Christus gehörend; Kirche ist das „Haus des Herrn“.
Dort geschieht Dienst, Gottesdienst, wir dienen Gott mit Lob und Dank und Opfer – ja, die Kollekte ist der schwache Rest einer gehörigen Gabe. Und Gott dient uns mit Sinn, Kraft, Seelenpower, Gemeinschaft, Lebensmut. Wir werden in eine Geschichte hereingezogen, als Glieder einer Heilsgeschichte angesprochen:
Das ist was Grandioses. Zu wem gehören wir denn sonst? Zu Familie, Partner, einer Handvoll geliebter Menschen, zu Syltern, oder Syltfreunden, Abonnenten bestimmter Zeitungen; wir sind Steuerzahler an Kommune, Land, die Bundesrepublik, sind Europäer, Weltbürger, Autofahrer, vielleicht einer bestimmten Marke treu, Inhaber von 15 Versicherungen, Mitglied dieser oder jener Krankenkasse; doch wer bin ich damit, mit wem bild ich ein Ganzes? und was für eins?
Früher war das Volk alles, und als Volksgenosse hattest du dich für dein Volk zu verausgaben. Alles vorbei im Zeitalter des Globalen Marktes. Bald ist keine D-Mark mehr, um deretwillen wir im Ausland gern gesehen waren. Wir oder das Geld? Vielleicht hält dich die Gemeinde der Kunstbegeisterten, du willst viele Uraufführungen und Ausstellungseröffnungen mitmachen, oder du reist mit deinem Fussballverein mit, oder, oder...
Aber als Glied von Kirche wirst du als Teil eines Körpers angesprochen. Viele Glieder, ein Leib, mit einer Geschichte, eine Schicksalsgemeinschaft mit Gott, mit Christus, dem Inbild des Leibes der Kirche. Durch dich hin greift Gott ins Leben, durch dich hin fühlt Gott die Freude, den Schmerz. Gott baut sich seinen Klangkörper Menschheit, und dazu noch Kirche, vielleicht eine Sorte Nervenbahn im Leib der Menschheit, eine Bruderschaft, Schwesternschaft, Geschwisterschaft, eine Art Elite vielleicht, mit der der ganze Leib das Leib- und Gliedersein lernt.
Wir müssen doch lernen: bei allem persönlichen Einzigartigsein gehören wir zu einem Ganzen, bilden einen Organismus, und der Organismus, Gott genannt, oder Christus, ruft uns aus sich heraus, bildet in uns eine Blüte, oder einen Arm.
Es fing dies Wissen, zu einem Ganzen zu gehören, mit den ersten Menschen an, die Gott ansprach: Seid fruchtbar und mehret euch und bebaut und bewahrt den Garten Eden. Dann mit Abraham und Sara fängt eine spezielle Geschichte an, die Geschichte des Volkes Gottes, das durch Christus ausgeweitet wurde über den ganzen Erdkreis, auf griechisch: „kath-olos“, katholisch. Es geht darum, Gott und seine Schöpfung in ihrem Zusammengehören zu erkennen, besonders den Menschen als Gesprächs- und Projektpartner Gottes zu erkennen. Und dass wir eben eine gemeinsame Geschichte haben mit Gott, in Gott, und wir verwandelt werden bis zum ewigen Leben.
Kirche hat eigentlich keine Sondergeschichte, es ist Trainingslager für Menschheit. – Durchlauferhitzer, Weiterdenker und Weitersager von Menschenbild, wie es Gott im Sinne hat, wie es in Jesus Hand und Fuss bekam, und in Christus das Wasserzeichen einer der Hauptkulturen der Menschheit wurde. „Weit über die Blässe offiziellen Kirchentums ist die Welt eine christuserfüllte Welt“ (Rosenstock-Huessi). Das meint, wie wir von Welt und Leben denken, das kommt von der Kenntnis, die mit Israel und mit Jesus in die Welt trat, und wie ein Stück Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert; so gestaltet das Menschenbild des Christus die Menschheit wesentlich.
Carl Friedrich v. Weizsäcker schreibt: „Das römische Reich war nicht untergegangen, sondern Christen waren seine Herren geworden. Der christliche Kaiser durfte nicht Gewaltlosigkeit üben und den Barbaren das Land zur Eroberung freistellen. Die Kirche wurde ein Herrschaftssystem. Aber sie bewahrte die heiligen Texte. Und in jedem Jahrhundert gab es Proteste aus der Mitte der Kirche gegen ihre Kompromisse mit der Macht. Vielleicht hat niemand die Weltgeschichte stärker verändert als die Christen, die auf nichts als auf ihr Ende hofften.“ Dass wir heute für die Überlebenden des Erdbebens in Indien sammeln, kommt davon, dass Jesus die Geschichte vom Barmherzigen Samariter erzählt hat. Und dass wir den ADAC und die Notdienste haben, ist doch die Übersetzung der Nächstenliebe ins Grosse.
Kirche hat Lesen und Schreiben unters Volk gebracht. Bei allem Kritischen, was Mission auch war, hat jedenfalls ein Grossteil der Menschheit an Biblischen Texten das Lesen und Schreiben gelernt. Kirche hat Krankenhäuser, Pflegeheime, Waisenhäuser erfunden, hat Wissenschaft betrieben, hat mit dem Erbe der Antike die Menschheit das Denken gelehrt.
z.B.: Dass Krankheit nicht verhängte Strafe ist sondern Aufgabe, eine Einschränkung und auch eine besondere Berufung, auf eine besondere Weise mit Gott zu leiden, eine etwas andere Geschichte mit Gott zu haben; jedenfalls sind alle unsere Leiden ja an Gottes Leib gelitten. Warum auch jede Krankheit ein Wegstück, nie aber das Ziel ist, also wir durchkommen, und wir dann mit voller Fracht Erfahrung einst in dem Hafen Gott endgültig anlanden. Bis dahin sind wir hier auf grosser Fahrt, und jeder hat seine Fracht und seinen Ballast zu tragen, der seinem Boot den Tiefgang gibt. Und jeder ist zuständig im Rahmen seiner Kräfte; auch die Krankheit ist nicht nur Mangel sondern auch Kraft – davon sagt mal Paulus: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig“ und Jesus: „Selig sind die Leid tragen, sie sollen getröstet werden.“ Also muss Leid sein, wie Berg und Tal  „bis mal abgewischt sein werden alle Tränen von unsern Augen, und kein Leid wird mehr sein und kein Geschrei“ – alles ist dann neu geworden, so das Gottesprojekt. Und Kirche weiss davon und soll dies Wissen in die Menschheit säen, und das Leben, den Acker Gottes, gut bestellen. Also z.B. Kranke ehren, sie haben eine Erfahrung andern voraus, die wir zum Menschwerden alle brauchen, und keiner kommt drumrum. Wir alle sind gezeichnet von Glück und Schmerz – wir dürfen uns keiner Sorte Gotteserfahrung schämen. Mit Mangel versteck dich nicht. „Bittet, suchet, klopfet an“ sagt Jesus und Paulus: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle mit.“ – Darum übrigens mühte sich Paulus in der Urchristenheit, alle Gemeinden zu einer Kollekte für die armen Christen in Jerusalem zu bewegen.
Ärgerlich kann man über die verschiedenen Konfessionen denken, allein die Frage, was denn das Wesen sei von Brot und Wein beim Abendmahl, der Eucharistie, hat Kriege entzündet und Völker gespalten. Heutzutage kann man einem Zeitgenossen nicht mehr die Unterschiede erklären; wo diese theologische Haarspalterei Gemeinschaft verhindert, ist sie nur noch lächerlich. Ansonsten sind die verschiedenen Glaubensrichtungen, wie die verschiedenen Religionen überhaupt, normal wie die verschiedenen Sprachen. Konfessionen und Religionen sind ja Sprachen der Menschen mit dem Ewigen. Und jede Art hat ihren Schatz und ist nicht die ganze Wahrheit. Gerade vom Glauben gilt doch: Wir haben den Schatz nur in irdenen Gefässen, sehen jetzt wie durch einen beschlagenen Spiegel nur ein dunkles Bild, erst dann, wenn Gott sein wird alles in allem, sehen wir von Angesicht zu Angesicht und werden erkennen, wie wir von immer her gemeint sind (2. Korinther 4, 7; 1. Korinther 13, 12).
Kirche hat sich einmal dick gemacht, hat sich für den Statthalter Gottes auf Erden gehalten, bis dann die Kaiser und Könige Kirche zur moralischen Erziehungsanstalt herunterstuften. Die römisch-katholische Kirche besteht auf ihrer Stellvertreter-Christi- Stellung, teils auch mit Pomp und Gewissensknebelung. Die evangelischen Kirchen unterliegen oft einer anderen Versuchung: Sie verlieren sich bei Pfarrkonventen, Kirchenvorständen, Synoden in kircheninterne Diskussionen und Finanzsachen. Für Stellungnahmen zu ethischen Problemen wünschte man mehr Brillianz des Heiligen Geistes, aber auch in Kirche gilt: Der Geist weht, wo er will (nach Johannes 3, 8).
Kirche ist Versammlung von Menschen – daher das andere griechische Wort für Kirche „ekklesia“, Volksversammlung. Dort wird zu hohen Gedankenflügen eingeladen, was oft im Kontrast steht zu den Kirchenbeamten, die vielleicht an schlichter Menschenfreundlichkeit zu wünschen übriglassen. Bei Kirche gibt es viel Kleinliches, wie manche Kirchen voller zurückgelassener Gegenstände sind, denen der Sinn abhanden gekommen ist, Klumpen erstarrter Religion, ihrer Menschen entledigt (C. Nooteboom). Aber das religiöse Genie Paulus hat an die 25 Gemeinden in Kleinasien gegründet, aber keine hat gehalten. Wenn nicht durch verschiedene geschichtliche Umstände zur rechten Zeit ein geistliches Beamtensystem mit politischer Wirksamkeit entstanden wäre, so würde heute vom christlichen Glauben kaum eine Spur übrig sein. Ohne ihre Verlässlichkeit könnte niemals Geschichte entstehen, denn die geistigen Anstrengungen bleiben ewig strittig und windig (R. Musil). So ist bis heute ein Streit zwischen Geist und Amt, zwischen Charisma und Institution. Jenseits von Versteinerung und heisser Luft muss Kirche Lebensmut schlagen aus dem alten Wort für heute.
Man entscheidet sich, zur Kirche zu gehören – auch wenn man sich nur entscheidet, die von den Eltern getroffene Entscheidung nicht zu widerrufen. Glied von Kirche wird man durch die Taufe. Die verstehe ich als Siegel Gottes: du bist mein Kind, „fürchte dich nicht, ich habe dich (aus dem Nichtsein) erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jesaja 43, 1). Was ursprünglich dem Volk Israel in seiner konkreten Not von Vertreibung, Exil und Rückkehr gesagt war, das wagt die Christenheit dem einzelnen Menschen zuzusagen: Du, Gott liebt dich und braucht dich, darum lebst du. Das ist die Substanz von Kirche, die weit über Kirchenmauern und Mitgliedslisten hinaus prägt.
Ich weiss nicht, wie Menschheit ohne Kirche, Tempel, Schrein, wie Menschheit ohne Bindung an Gott Mensch sein kann. Unter Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot war Kirche und Religion zum Schweigen gebracht oder zum Glauben an Hitler etwa umgetauft. Vierzig Jahre Staatsatheismus haben in Ostdeutschland auch eine geistige Verwüstung besorgt, wenngleich die westlichen Erzeugnisse Big-Brother und Pokemon und drei Stunden Fernsehen pro Tag auch Brachland im Kopf andeuten.
Glücksaugenblicke im Pastorenberuf: Etwa, wenn die Schulanfänger zum erstenmal im grossen Kreis diese Kirche erleben. Und ich sage ihnen, dass dieses wunderschöne Haus ihnen gehört, auch ihnen. Erzähle ihnen, wie schon ihre Eltern und Oma und Opa hier (oder in einer anderen Kirche) kurz nach ihrer Geburt von vielen Menschen begrüsst worden sind und sie das Zeichen der Taufe bekommen haben, das sie nie verlieren können. Und dass hier sie mal zum Erwachsenwerden mit Gotteskraft gesegnet werden. Und hier hat Vater, Mutter sich als Ehepaar bekommen und von hier aus hat Opa mal seinem verstorbenen Vater ein Grab gegeben. Und diese Kirche gehört dir und dir, jedem der hingeht, dem gehört sie. Und ein bisschen auch dem, der vorbeifährt. – Denn die Kirche bewahrt nicht Asche auf, sondern hält ein Feuer am Brennen, das auch die Fernerstehenden noch wärmt. Hier ist zu spüren ein Einschluss Weltabgewandtheit in der harten Weltkugel, die ohne diese machtvollen Verstecke der Stille auseinanderflöge, so Botho Strauss. Amen.
 

Schlußgebet

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