Wochenspruch mit kurzer Auslegung (T.G.) 01.11.1998
Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Römer 12, 21
Wir sind gewürdigt, mit Bösem den Kampf aufzunehmen. Es ist
Unkraut und Weizen in uns, wir haben beides � Gunst und Mißgunst,
Lieben und Hassen. Wenn wir vom Miessein überschwemmt werden, dann
entichen wir, sind negativ, vermehren die Angst. Aber wir können oft
anders. Wenn wir Raum für Wahl haben, sollten wir uns entscheiden
fürs Aufbauende. Freude beschafft guten Nachgeschmack. Wir bereiten
Gelingen vor, das ist herrlich � wie ein einladend gedeckter Tisch
Keitumer Predigten Traugott Giesen 01.11.1998
Reformation � Kirche � �Allein aus Gnade� � Römerbrief 3
481 Jahre ist es her, daß der Theologieprofessor Martin Luther
seine 95 Thesen an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg schlug.
Er forderte auf zu einer gelehrten Diskussion über die verheerenden
Folgen des Ablasses, forderte eine Reform der Kirche. Zur Disputation kam
es nicht, aber die Forderungen Luthers verbreiteten sich in immer neuen
Auflagen, der Ablaßhandel geriet ins Stocken. Man versprach ja Sündenerlaß
gegen Geldzahlung, und viele Zwischenhändler verdienten an dieser
lästerlichen Methode, den Himmel zu Geld zu machen. � Wir verdanken
allerdings dieser verheerenden Geldquelle den heutigen Petersdom in Rom
und die Bilder des Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle, die ja Offenbarungsqualität
haben � das Gemälde von der Erschaffung Adams � wie prägte es
unser Menschen- und Gottesbild! �
Mit dem Angriff auf den Ablaßhandel traf Luther tatsächlich
den Nerv der maroden Kirche: Eine hochdramatisch theologische Sache stand
auf dem Spiel: Kann man Sünden aus eigener Kraft bei Gott wettmachen
� sei�s durch Geld, sei�s durch Gehorsam; dann können wir uns ja das
Rechtsein vor Gott verdienen. Und das geht nicht. Auch Kinder haben ihr
Rechtsein bei den Eltern dadurch, daß sie rechte Kinder der Eltern
sind. Auch wir Menschen sind Gott recht, weil Gott uns lieb hat. Wir werden
vor Gott gerecht, weil uns Gott für recht und richtig erklärt.
Dies glauben, besorgt das Gerecht vor Gott sein. Damit liegt alles bei
Gott und ist menschlichem Mühen, vor allem kirchlichem Wirken aus
der Hand genommen.
Mit Luther wurde die Kirche und die Welt grundstürzend anders.
Es galt nicht mehr als heilsnotwendig, den Papst anzuerkennen. Mit dem
Satz �Auch Konzilien können irren� verloren alle Bollwerke der Wahrheit
ihre Unfehlbarkeit. Wahrheit wurde wieder was sie ist � nämlich vieldeutig,
auslegungsbedürftig, auf Erden nur in Form von vorläufigen Absprachen.
Damit verloren Kaiser und Papst ihre himmelgestützte Autorität,
es erstarkten die Nationalstaaten, später die Demokratien, es verloren
auch die irdischen Väter ihre Gottvaterallüren, und die Frauen
gewannen die Gleichberechtigung � ehrend sei auch der Katharina von Bohra
gedacht, Luthers Ehefrau, vor 499 Jahren geboren; �Herr Dr. Käthe�
nannte Luther seine Herrin des Hauses.
Mit Übersetzung der Bibel ins Deutsche und der Lesung der Gottesdienste
in der Landessprache gewannen die Menschen ihre Würde, kamen los vom
klerikalen Gängelband. Auch wurde das Gewissen des Einzelnen wieder
erkannt als Ort der Klärung von Gut und Böse. Das Recht, Lehre
zu beurteilen und Sünden zu vergeben hat die Gemeinde wieder bekommen.
Der Beichtzwang wurde abgeschafft. Das asketische Ideal wich einer Wertschätzung
von Handwerk und Wissenschaft. Der Schuster, der seine Arbeit gut macht,
tut Gottesdienst, Hausarbeit wie Predigtdienst ist heiliges Werk, so Luther.
Er lehrte auch �daß es ein ander Ding ist, Gut haben oder dem Gut
dienen. In den Händen soll das Geld sein, nicht im Herzen.� � Besitz
und Geld sind Gaben, die gleichzeitig Aufgaben sind � das besorgte mit
den Wechsel von der Natural- zur Geldwirtschaft. Eindringlich wurden die
Gewissen geschärft: wir sind Mitarbeiter Gottes. Und jeder Mensch
ist mit dem andern Menschen gleichen Rechtes, da gleich verwandt zu Christus
� das machte später den Weg frei zur Loslösen von Leibeigenschaft
und Sklaverei.
Die Freisetzung der religiösen Sehnsucht aus den Fesseln der Kirche
eröffnete den Künsten neue Entwicklung. Mit Aufbrechen des engen
geistigen Horizontes geht einher auch Erweiterung des räumlichen Horizontes
� die großen Entdeckungen der Erde und des Weltalls und später
des Mikrokosmos inklusiv unserer Gene sind eröffnet. Die kirchlichen
Dogmen gewinnen ihre wahre Bedeutung wieder � nämlich Symbole sind
sie fürs heilige Leben. Nicht mehr übernatürliche Fakten
versammelt die Bibel sondern Bilder, die Gottes und des Menschen Zusammengehören
einüben.
Diese Reformation des geistigen Lebens hat auch Kirche verändert
� sie ist nicht mehr Heilsanstalt, die das �Heilmittel zur Unsterblichkeit�
handhabt; nicht mehr Brückenbauer und Fahrstuhl vom verlorenen Diesseits
zum Himmlischen. Kirche ist nicht mehr Verwalter der Güte Gottes.
Was aber dann? Sie ist Schatztruhe der richtigen Fragen nach Gott und Mensch
� sie ist Reservoir der Erfahrungen mit dem Ewigen, sie ist vor allem Gemeinde,
Einübeort für Menschenfreundschaft. Sie hält im Gedächtnis
die Leiden der Kreatur und lehrt das Singen von Tränen zur Freude
hin.
Auch mittels der Reformation hat der Mensch seine Autonomie zugesprochen
bekommen. Gott ist verborgen im Weltlauf; der gekreuzigte Christus als
Ausweis Gottes zeigt, daß Gott noch in den Wehen liegt dieser leidenden,
mühevollen Geschichte. Wir müssen arbeiten, als wenn es Gott
nicht gäbe. Und müssen glauben, als hülfe kein Arbeiten
� so faßt Bonhoeffer die Moderne auf. Es gibt gute Gründe, wenn
nicht atheistisch, so doch agnostisch zu sein � wenn nicht gewiß,
daß es Gott nicht gibt, dann doch ungewiß, ob Gott existiert.
�
Inzwischen ist ein Großteil gewohnte Kirchlichkeit abgebrochen:
Im Osten Deutschlands haben 56 Jahre Staats-Atheismus eine geistige Brache
zurückgelassen. Im Westen haben Fernsehen und Jagen nach Geld viele
andere Wünsche ausgebrannt � das Kaufhaus als Kirche, der Fernseher
als Altar, schöne Reisen zu erreichbaren Paradiesen. Unsere Sehnsucht
scheint nur noch auf kleine Wünsche verdünnt.
Die große Botschaft, die Kirche hütet, kann Kirche kaum
wechseln in die Münzen des Alltags. Die fitte Sozialstation wird gern
genutzt, Kindergärten werden gern in kirchliche Obhut gegeben, ebenso
Friedhöfe. � Die Kinder sollen zur Konfirmation, nur wenn sie es wünschen,
der Ärger mit der Verwandtschaft ist keine Freude.
( Früher war Kirche der einzige öffentliche Ort, die Gesetze
wurden von der Kanzel verlesen. Kirche und Armee galten als Schule der
Nation. Aber meist war sie Sache der Obrigkeit, hier wurde auch für
Hitler gebetet und für den Sieg. Lange war Kirche nicht für Demokratie,
und immer noch meinen zwei der drei nordelbischen Bischöfe, einen
mit mehr als zwei Drittel Mehrheit gefaßten Synodenbeschluß
mit einem Veto belegen zu müssen: Obrigkeit mitten in der Kirche,
deren Herr doch gesagt hat: Einer, ich bin euer Meister � ihr aber seid
alle Brüder und Schwestern. � )
Vielen ist die Kirche unakzeptabel, auch wegen herrischer Kirchenleute,
die die �religiöse Kompetenz ihrer Mitglieder vernichten� (M. Kröger).
Menschen treten aus, bleiben jedenfalls weit auf Distanz und gestalten
Kirche nicht mit. Gemessen an der geringen Mitmachelust bei Kirche, ist
es fast ein Gottesbeweis, daß Kirche noch immer da ist.
Kirche muß da sein. Wer denn sonst pumpt Lebensmut in die Gesellschaft,
beschafft den Humus für viele gute Werke. Wer redet ins Gewissen,
etwa ausländische Mitmenschen gastfreundlich aufzunehmen? Wer erinnert
an die gemeinsame Verwandtschaft alles Irdischen, wer predigt die Ehrfurcht
vor dem Leben? Wer sagt uns Gott an, adelt uns als Kinder der Liebe, wagt
Ehen als vom Schicksal anvertraut zu feiern? Wer lehrt uns, das Sterben
als Heimkehr uns gefallen zu lassen? Wer mahnt zu Vergebung und Gerechtigkeit
und zum Verzicht auf Privilegien?
Außer Musik, Sonne, Liebesumarmung kenne ich keine leicht erreichbare
Quelle für Gottvertrauen und Nächstenliebe als die ganz normale,
schlichte, alltägliche Kirche, fast nebenan.
Mit Pastor, Pastorin, der Organistin, dem Hausmeister und vielen Aktiven
ist doch Kirche/ Gemeindehaus der gute Ort im Quartier. Und wenn du da
keine Gesprächsrunde findest, keine Kindergruppe, Altenkaffee, Hobbyclub
für Nachbarschaft, dann rede mit dem Kirchenvorstand, und du bekommst
Raum für deine Initiative. Und wenn es keinen Kaffee nach dem Gottesdienst
bei euch gibt, dann biete an, du nimmst das Treffen in die Hand und spülst
auch nachher. Oder lade dir ein paar Gleichaltrige mit nach Hause, und
ihr kocht zusammen. Oder du hilfst den zugezogenen Rußlanddeutschen
zu anständiger Ausstattung ihrer Schlichtwohnungen.
Kirche geschieht � oder sie ist nicht. Dafür braucht es die �lebendigen
Steine�, so handfest werden die Christen in der Bibel mal bezeichnet: es
braucht die aufgeräumten Menschen, die in der modernen Welt als �Briefe
Christi� gelesen werden.
Man wirft der Kirche zu viel Bürokratie vor. Aber mach das nicht.
Alle ersten Christen-Gemeinden sind bald wieder vom Winde verweht � nur
Rom hat überdauert durch frühe Klärung der Gemeindeleitung
und Aufbewahrung der Briefe des Paulus und dann der Evangelien. Spontaneität
ist kostbar, aber es muß klar sein, wer die Schlüssel hat. Beten
kann jeder zu jeder Zeit und die Bibel auslegen auch. Aber im Namen von
Christlicher Kirche sagen was jetzt dran ist, das braucht die Weisheit
der Religionen und Hören auf Gesamtkirche und deren Berufung.
Spirituelle Heimat, energiegeladenes Reservoir an Lebensmut und Menschentrost
ist Kirche. Sie braucht nur mehr Fordernde, Drängende, braucht Hungrige
nach Heiligem Geist, mehr Sehnsüchtige, Wache wie du und ich.
Kirche ist mehr als ein Verein, wo die Vereinsziele nach eigenem Ermessen
festgelegt werden. Kirche ist auch die Institution, die �als einzige die
Wurzeln von Werten, Grenzen und Geboten öffentlich vertreten und darstellen
kann� (M. Kröger). Auch bleibt sie mit ihrer querstehenden, nicht
kommerziellen, nicht unterhaltsamen Art ein Dorn im Betrieb und bleibt
Stachel im Bewußtsein: willst du denn zentrale Lebensfragen einfach
vertrödeln?
(Selbst die Kirchenaustritte gehorchen ja einer Wellenbewegung, sie
gerieren sich als Akt der Freiheit sind aber Teil der Privatisierungs-
und Entsolidarisierungswelle � die austreten wollen gern, daß Kirche
bleibt, aber andere, die mehr interessiert sind, können sich ja kümmern.
Die austreten orientieren sich allermeist nicht religiös neu, sondern,
ja, wohin tritt man, wenn man austritt ?� doch ins Leere. Und sammeln doch
nur mehr, um es zu vererben an die, die kein Quentchen dankbarer oder erfreuter
sein werden.)
Entscheidend wird sein, daß Kirche noch mit Gott zu reden weiß
� nicht so viel über ihn sondern mit ihm, jedenfalls in seine Richtung.
Auch wenn Gott abwesend scheint, müssen wir uns auf das hohe Meer
der Ungewißheit wagen, wir müssen die Felsbrocken kalter dogmatischer
Sätze fahren lassen und das Ufer frommer Geborgenheit verlassen �
in der Hoffnung, daß mitten in der Wirklichkeit Gott uns blüht,
und Religion laut wird in den weltlichen Gesängen und Klagen.
Kirche muß auch geweihte Orte offen halten, Schutzhütten,
Quellenhäuser für den Trost der Menschheit, erarbeitet unter
Tränen und Qualen. Und bis wir neue Texte haben, muß das Rinnsal
der alten Lieder und Gebete und Kirchenmusiken am Fließen gehalten
werden, daß neues Leben ausbricht und seine neuen Lieder mit.
Kirche glaubt: Wir stehen alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig
gegenseitiger Beziehung und untereinander auch (M. Buber). � Dies leben,
dies mit unserer kleinen Zusammenhaltekraft gestalten � daß wir also
Gefühle zueinander haben, und die Lebenskräfte zirkulieren lassen
� läßt Kirche wieder und wieder entstehen. Die Handlungstradition
des Abraham und des Mose und des Jesus � dieser Aufbruch nach vorn und
immer Gott dabei wissen, wie dunkel es auch ist � das macht Kirche aus.
Macht uns in Kirche wichtig. Amen.
Losung für die Woche ab 08.11.1998
Losung für die Woche ab 15.11.1998