Traugott Giesen Kolumne 21.11.1998 aus Hamburger Morgenpost
Einsamkeit und Tod
Darum wohl hängen wir so am Leben, weil wir da nicht alleine sind.
Solange wir leben, können wir zu Menschen, und wenn wir im Bahnhof
rumstehen. Da kann man dem konzentrierten Dasein zuschauen � wie sie von
einander sich losreißen unter Tränen oder mit freisprechendem
Lachen oder sich abholen in Freude oder Pflicht � Hauptsache, daß.
Ach wenn wir doch herzzerreißend heulen müßten wie
Wölfe, wenn wir einsam sind. Dann könnten wir nicht so leicht
ins Vergessen verloren gehen. Doch wir, wenn unser Alleinsein wächst,
können uns andern aus den Augen schaffen, können uns verleugnen
und totstellen, weil wir uns selbst schon für wertlos, für gestorben
achten.
Wir Menschen brauchen Gemeinschaft, müssen von dieser nehmen,
mit dieser arbeiten, an sie Energie abgeben. Aber die biologischen Zwänge
des Zusammenhaltens wie die Tiere haben wir nicht mehr so. Das Geld anonymisiert
Arbeit schnell. Typisch, daß der Tod eines Single-Mitmenschen manchmal
erst bemerkt wird an ausbleibenden Zahlungen.
Wir müssen dringend auf �Menschenflüchter� achten. �Man ist
immer halb irrsinnig, wenn man menschenscheu ist� (R. Walser). Das hektische
Tun und Treiben deklassiert sie. Dabei sind doch wir Hochtourigen die Verrückten,
die aus Angst vor Stillstand immer zwei Dinge zugleich machen. Ist das
nicht versteckte Angst vor dem Tod? Was für Bilder verbinden wir mit
dem Danach? Die Hektischen meinen doch, sie müßten sich, was
danach auch noch kommen mag an Glück, hier mühsam verdienen �
nie soll man ihnen nachsagen, sie wären faul gewesen. Sie wollen überall
Spuren legen und lesen ihrer Unersetzlichkeit. Oder hektiken sie so rum,
weil sie nur dem Jetzt trauen, nur das Jetzt glauben als Gefäß
für Glück und Genuß. Und da ist ja was dran: �Liebe, lache,
teile, verknüpf dich � solange du liebst, bist du noch ganz da, noch
ganz du.�
Im Tod verlassen wir die Welt, das sagt man so. Aber wir sind doch
nicht mehr Täter unserer selbst. Höchstens verläßt
uns die Welt � wir bleiben zurück. Wo und als wer? Das bleibt die
Frage. Aber als Frage bleibt sie wesenswichtig fürs Menschsein. Es
ist eine Einsamkeit der Welt zu fühlen für die Empfindsamen und
sie können sich schon hier von Gott und Welt verlassen sehen, wenn,
ja wenn wir nicht stellvertretend für sie mit vertrauen: Alles trägt
das Hoheitszeichen �Made in Heaven�, und jedes Lebendige ist Abbild von
Ewigem. So laßt uns einander achten und aufeinander achten. Gut gesagt
MOPO: �Wen man nicht sieht, der muß ja nicht gleich tot sein� und
Pastor Reimers: �Wir sollten an einem dichten Netz von Kontakten stricken
und dabei bewußt auf dünne Stellen achten.�