Traugott Giesen Kolumne 03.01.1998 aus Hamburger Morgenpost
Religion wofür?
Selbst wenn einem seit langem alles verbraucht ist, was man an religiösen
Vorräten hatte � nach einer Reihe von Feiertagen hat jeder wieder
Religion abbekommen. Und wenn man nur Dekoration traf, Verpackung und Gefühl,
dann ist doch wieder aufgetaucht das Ahnen: da war doch noch was.
Religion ist die einzige Fremdsprache, die jeder können muß
(E. Fromm); die Zeichensprache von dem, was uns verbindet: Tatsachen, Dinge,
Sachen verstehen sich von selbst; aber was wir Menschen sind, warum die
Liebe weh tut, was gut und böse ist und wohin wir gehen, wenn wir
sterben � das fragen wir innen. Und wenn wir diese Fragen uns aus dem Herzen
nehmen lassen � dann schrumpfen wir. Dann ist der Supermarkt unsere Freude,
der Lottogewinn unser Friede, dann lauern unsere Augen auf schöne
Tore und unsere Ohren auf Tenöre, und keiner sagt mehr, warum ich
unersetzbar bin und wofür zu leben sich lohnt.
Aber die Feiertage spannen noch ein Netz übers Jahr, jeder private
Kalender hat vor aller individuellen Füllung die Daten der religiösen
Zentralfigur Christus rot notiert. Noch ist ein Schimmer von Zusammenhang
des Ganzen da. Noch betten die meisten hier ihre Schicksalsdaten ins religiöse
System. Noch machen wir die Kinder nicht, sondern sie kommen zu uns auf
die Welt. Noch weihen sich die Vierzehnjährigen nicht dem Staat oder
dem Markenartikel-Abo sondern bitten noch �das Herz aller Dinge� um einen
guten Lebensweg. Und alle Liebenden glauben sich für einander bestimmt,
und ihnen offenbart sich das Zartsein als Geschenk des Himmels, und oft
sehen sie sich für einander verantwortlich gemacht von letzter Instanz.
Und wenn wir sterben, dann doch auch in der Hoffnung, das Bruchstückhafte
unseres Hierseins hinter uns zu lassen und endlich heimzukommen in einem
guten Ganzen. �
Ich bin froh, nicht von einem grausamen Gesetz des Karmas auf ein Rad
der Wiedergeburt geschnallt zu werden. Ich freue mich, evangelisch sein
zu dürfen � freigesprochen zu eigenem Gewissen, berufen vom Schöpfer
zur Kooperation, Invalide höherer Kräfte, nicht nur findiges
Tier. Wir sind nicht kleingemacht und verzwergt, wie man sich vor zwanzig
Meter hohen Buddhafiguren wohl schon vorkommen kann. Wir sind auch froh,
nicht dummgehalten von religiösen Führern mit einem Plastikschlüssel
um den Hals fürs Himmelreich zu Selbstmordkommandos geschickt zu werden.
Die christliche Religion hat alle diese Sünden auch begangen aber
doch hoffentlich hinter sich.
Wer meint, er könne ohne Religion sein, der betet wahrscheinlich
die eigene Tüchtigkeit an oder seinen noch schönen Körper
oder sein Konto. Keiner ist ohne Religion; fragt sich nur, welche trägt.