Kolumne 15. Oktober 2005
Traugott Giesen Kolumne 15.10.2005 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Sterben dürfen, sterben können, wenn die Zeit da ist
Das waren noch Zeiten, als die Patriarchen im Kreis ihrer Familie friedlich
hinüberstarben. Oder auch Kinder, die nicht leben konnten- wie wurden
sie im Kreis der Geschwister und vieler Tanten in den Himmel gesungen. Lange
her.
Und doch wünschen wir uns auch ein behütetes Sterben, nicht einen
kahler Raum im Krankenhaus, wo man sich abgeschoben und aufgegeben weiß
und das Personal nur kurz reinschaut und die reduzierten, fachmännischen
Griffe tut. Wir wünschen uns Lebenshilfe bis zuletzt, nicht Sterbehilfe.
Es ist dafür gesorgt, daß heute kein Mensch hier mehr gellende
Schmerzen aushalten muß. Die ärztliche Kunst weiß sehr wohl
zu unterscheiden, was Leben verlängert. Und was nur Sterben
verlängert. Dies darf sowieso kein Arzt betreiben. Er muß nicht
erst durch Patienten-Verfügungen davon abgehalten werden. Sicher gibt
es Grauzonen. Wenn der Patient noch geistig klar ist, kann er lebenssatt
geworden, selbst sich künstliche Ernährung verbitten. Keiner darf
gezwungen werden zu essen und zu trinken. Und wenn der Mensch dann immer
bewusstloser wird, wenn also das Sterben im Gange ist, wird doch kein
fürsorglicher Mensch hinterrücks wieder eine Nahrungsaufnahme
erzwingen.
Pflegende wissen, Linderung zu verschaffen, achtsam zu windeln, zu pudern,
zu cremen, zu betten. Vor allem brauchen wir, wenn es zum Sterben geht,
mindestens einen Menschen, der uns auf dem Weg ins Dunkle begleitet. Es kann
dahinter uns ein Leuchten und Erlösung erwarten, aber von diesem Leben
abgeschält zu werden, ist harte Arbeit. Immerhin reißt sich das
Ich, die Seele los aus ihrem abgebrauchten Körper. Sich aus dem gewohnten
Reisesack des Lebens (R. Musil) zu lösen, das braucht noch
mal ein großes Seufzen. Auch das liebe Leben zurücklassen, die
Blumen, die Sonne, geliebte Menschen, das gehütete Konto, vielleicht
den Hund- und noch mal Dank abstatten allem ringsum, das braucht Geleit.
Nicht kurzen Prozess.
Für Außenstehende mag das Sterben als Qual erscheinen. Es
abzukürzen, könnte die Liebe einflüstern. Aber Leben ist heilig
und kein Mensch darf sich anmaßen zu sagen, jetzt sei es genug. Denn
wir wissen nicht, warum dieser Mensch viel Zeit braucht und sich nimmt zum
Sterben, und der andere schläft über sein Sterben einfach drüber
weg. Meistens ist es so- die letzten Tage dauern. Und immer immer mehr Menschen
werden immer länger pflegebedürftig. Nur wenig Menschen können
finanziell gesichert und mit familiärem Geleit alt werden. Wir alle
schätzen unser wahrscheinliches Lebensalter um etwa acht Jahre zu kurz
ein, sorgen auch deshalb zu knapp vor. Der Staat wird rigoros die Steuern
anheben müssen, um jedem Menschen eine würdige Pflege zu sichern
und Altenheime und Hospize zu guten Orten zu machen. Wehe, wir stellen aktive
Sterbehilfe straffrei. Damit wäre das Signal gestellt auf freie Fahrt
für das sozialverträgliche Frühableben; das man
sich bald rücksichtsvoll dann selbst zu verfügen hat, weil ja das
Budget abgelaufen ist.