Kolumne 8. Januar 2005
Traugott Giesen Kolumne 08.01.2005 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Schweigen, beten, helfen
So was haben wir noch nicht gesehen, diese Wucht der Wasser, die Menschen
und Sachen zu Streichholzkleine verwirbelt. Wie durch eine Riesenwelle von
hunderttausenden Mitmenschen nur Haufen entseelter Körper bleiben, die
nur schnell unter Erde sollen. Wie ohne Namen, ohne Erkennung und Beweinung
Liebste begraben werden, Menschen verschollen bleiben, vermisst - was das
bedeutet nach den großen Kriegen, wie die Liebe ihr Gegenüber
verliert und lange doch der innere Sog bleibt und der Verlorene als Schatten
und Phantom mitgeht.
Durch das Fernsehen werden wir als Zeugen vereinnahmt, verdünnt, aber
noch fühlbar zerschlägt es uns die Hütte, stehen wir durstend
in Schlangen, bleiben unsere Schmerzen unbetäubt, nehmen ein Findelkind
an die Seite, lehnen uns erschöpft an den Unbekannten, bilden mit ihm
eben ein Nest des Überlebendürfens. Und beten - jedes Atmen ist
ja ein noch Atmendürfen. Und Spüren, ich, ich bin entronnen, ich
darf noch die Sonne sehen, ich kann, darf, muss, will noch was - das ist
doch Beten, ist mich wissen als Teil eines guten, großen Ganzen.
Schweigen und starren und heulen und wie vor den Kopf geschlagen vor sich
hingeschehen, ist das eine. Dann aber müssen wir beten, beten schon
im Überlebenwollen. Wenn das Entsetzliche wächst, müssen wir
uns retten zu so was wie den mütterlichen, väterlichen Lebensgrund.
Auch wenn wir kein geformtes Bild einer Gottheit im Himmel mehr im Kopf haben,
so hält uns doch Sehnsucht aufrecht. Ein inneres Wissen, das uns
vorläufig optimistisch stimmt, das uns noch wollen macht und uns
zusammengehören lässt, und uns ins Bitten einstimmt für die
Gestorbenen um ein Leben nach dem Leben.- "Wir sind alle Bruchstücke,
weil wir die Heimat verloren haben" (Josef Roth)- wenigstens diese
Bruchstückahnung ist doch noch bei uns in Gestalt des Entsetzen.
Und dann müssen wir helfen. Tot sein oder helfen, ein Drittes gibt es
doch nicht. Daß wir jetzt viel zusammenlegen, zeigt, wir sind noch
berührbar, wir sind noch empfindsam, wir wissen von unserem
Zusammengehören. Das irische Wort ist sicher zu überschwänglich:
Es gibt keine Fremden, es gibt nur Freunde, die sich noch nicht
begegneten. Vermisstenlisten werden von Plünderern ausgenutzt,
die zu Waisen gewordenen Kindern sind von Menschenhändlern bedroht,
es soll Katastrophentouristen geben, die in die Unglücksgebiete fliegen,
um ihr Behagen am Unglück anderer zu weiden. Aber die Hilfsbereitschaft
ist größer als die Schlechtigkeiten. Gut, daß wir viel geben
und unsere Regierung viel zusagt. Wir hatten mal 0,7 Prozent vom
Bruttosozialprodukt den Armen versprochen, wir geben kaum 0,3 Prozent, und
verdienen uns satt an deren Schulden bei uns. Es scheint, ein Ruck habe uns
erreicht, habe uns zu Nächsten gemacht, weil uns die Katastrophe vor
Augen führte, daß wir als Nächste dran sein können.