Traugott Giesen Kolumne 09.11.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Wenn einer stirbt, der uns berührt
hat
Wenn ein Mensch gestorben ist und beim ersten
Hören davon zuckt unser Herz, dann stand er uns nahe. Wir waren mit
ihm beschäftigt; auch wenn wir sehr am Rande seines Lebens liefen, für
uns hat er was bedeutet. Und solange er lebte, freuten wir uns, "ach der
- ja, auch schon älter - gut so", und man erinnert gemeinsamen
Bruchstücke Leben, war sich lange aus den Augen, dann kam wieder ein
Anlass - man hat eben ein Stück gemeinsame Erfahrung. Und dem Menschen
würde man in der Not helfen, man müsste es, das weiß man
genau. Und dann liest man die Anzeige oder, wenn er berühmt war, zeigt
es das Fernsehen, oder wenn er zum Freundeskreis gehörte, ruft man sich
an, dann ist ein Erschrecken und Trauer kriecht in uns.
Beim Tod des Nächsten brechen wir auseinander,
der Tod des nahen Verwandten lässt uns aktiv werden, der Tod eines Fremden
bleibt ganz im Allgemeinen, wie das Martinshorn, das gellt, uns ein allgemeines
Mitfühlen für kurz einschießt. Doch wenn ein Mensch stirbt
aus der weiteren Nähe, so dass ich mit zur Beerdigung gehe, oder gehen
würde, wenn's sich träfe, dann rieselt so was wie Dank durch mich
- wir haben mal gemeinsame Sache gemacht, voneinander gelernt oder Freuden
geteilt oder sind hart aneinander geraten, aber es ist längst bereinigt.
Oder man hat gute Geschäfte gemacht zusammen und weiß voneinander
auch Kinken, und jetzt geht sein Wissen zu Grabe, und nur ich weiß
noch und weiß doch auch schon lange nicht mehr. Oder der starb, war
ein leuchtender Mensch, der andern erhellte, worauf es ankam; der auch mit
seinem Lebenslauf immer mal wieder in der Zeitung stand und ziemlich unerreichbar
war - und jetzt geht er den Weg allen Fleisches. Was macht mir sein
Gehen?
Es ist eine Trauer, eine durch Abwesenheit erzeugte
Kraft, die wehmütig macht. Ich spüre, wie nichts bleibt. Und auch
ich nicht bleiben werde. Heute schon ist ohne ihn, die Zukunft kommt ohne
ihn. Und auch ich bin auf der Liste der Vorübergehenden schon ziemlich
vorn. Und was wird bleiben, von ihm, von mir? Eigentlich ist nur jetzt wichtig,
jetzt lieben und Freude kosten.
Man macht sich so seine Gedanken, wenn einer
aus der Nähe ins Dunkel eintritt. Sterben ist wohl der einzige Weg zu
meiner, deiner Befreiung. Denn Hier ist immer das Feld von Richtig und Falsch,
erst wenn unsere Hände loslassen, lassen sie auch das Klammern. Der
Treibstoff Hoffnung betreibt uns und hebt uns über die Schwelle hin.
Dann werden wir ganz, ziehen ein in das Haus von Licht. Und ja, unser
Freundeskreis unter den Toten wird größer.