Predigt 16. November 1997
Keitumer Predigten Traugott Giesen 16.11.1997
Volkstrauertag
Anfangen hier, was der Ergänzung wert ist.
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel
mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle
Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander
scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird
die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her,
ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von
Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen
gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich
bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen,
und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht.
Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.
Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich
hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? oder durstig und haben dir
zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich
aufgenommen? oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank
oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage
euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan.
Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten,
in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich
bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig
gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen,
und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt
mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr
habt mich nicht besucht.
Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig
oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im
Gefängnis und haben dir nicht gedient?
Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr
nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht
getan.
Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, die Gerechten in das ewige
Leben. (Matthäus-Ev. 25, 31 - 46)
Dieser gleichgewichtige Ausgang ist nicht von dem Jesus, den ich kenne, der
den Gott der Liebe ausruft. Dafür hätte Jesus nicht zu kommen brauchen,
daß weiter unsere Werke das letzte Wort hätten. Und Ewigkeit nur
eine Verlängerung unserer Taten und Untaten wäre. Der große
Theologe Robert Bultmann sagte: "Man kann sich des Gedankens nicht erwehren,
daß diese Geschichte aus jüdischer Tradition stammt."
Jesus preist doch glückselig die Barmherzigen, ihnen ist schon Reich
Gottes gegenwärtig - sie haben doch die Freude des Teilens. Der barmherzige
Samariter (Lukas-Ev. 10) - wie ermüdet aber glücklich hat er den
unter die Räuber Gefallenen verbunden und erstversorgt zur weiteren
Pflege abgegeben. Dagegen der Priester, der Lehrer, die vorbeigeeilt waren,
welche Schreckensbilder verfolgten sie noch lange, wie hören sie in
den Träumen noch die gellenden Schreie des Geschundenen. Die Strafe
derer, die nicht helfen, ist doch auf der Hand. Es ist doch Strafe, so hartherzig
zu sein, sie sind nicht gern sie selbst. Aber sie müssen sich aushalten,
das ist doch auch eine Art Hölle.
Wenn Gott Gericht vorhätte mit Paradies für die Lieben und
Höllensturz für die Bösen hätte Jesus nicht zum Verbrecher
am Kreuz sagen dürfen: "Heute wirst du mit mir im Paradiese sein" (Lukas-Ev.
23, 43) - und mein Jesus hat das nicht nur zu dem einen gesagt, sondern zu
beiden - auch wenn das die Gewährsleute des Lukas nicht mitgekriegt
haben. Wenn Gericht mit Himmel und Hölle, hätte Jesus nicht sagen
dürfen: "Ich bin gekommen zu retten, nicht zu richten" (Johannes-Ev.
12, 47), hätte auch nicht Sünden vergeben dürfen. - Das aber
war ja der Grund, Jesus wegen Gotteslästerung zu kreuzigen.
Wir dürfen Gott als so gütevoll glauben, daß er "die Gottlosen
gerecht macht" (Römerbrief 4, 5) und den Bösen zugute hält:
"Sie wissen nicht, was sie tun" (Lukas-Ev. 23, 34).
Warum eigentlich gehört zum christlichen Glauben das Jüngste Gericht?
"Das könnte den Herren der Welt ja so passen, daß mit dem Tod
bleibt alles beim Alten, die Herrschaft der Herren, die Knechtschaft der
Knechte" (so etwa Kurt Marti). Die Mörder sollen nicht ewig triumphieren.
- Wenn Gott ist, dann muß er das letzte Wort haben, dann muß
Unrecht erkannt, benannt, gesühnt werden - so die Logik der Gerechtigkeit.
Ja, "Gericht ist ein mythischer Name für das reale Schmerzarchiv der
Individuen und Völker" (Peter Sloterdijk) - es darf keine Träne
vergessen sein, die Millionen Leben abgerissen, ausgerissen, erschossen,
ins Gas getrieben, zu Tode gequält, sie müssen im Gedächtnis
behalten werden.
"Gott weiß" - das ist Trost, weil damit die Geschundenen noch auf Heilung
setzen und die Untäter auf Zurechtbringung hoffen können; Opfer
und Täter brauchen Frieden. Auch ist es "unmöglich, daß auch
nur ein einziger Funke von Güte, von Hoffnung, von Liebe, sei er auch
ganz von einer Rinde aus Ungerechtigkeit oder Gleichgültigkeit
umhüllt, verloren gehen sollte" (Cäsare Pavese). -
Dies denken: Die Toten ruhen im Grunde der Zeit samt ihren Jahrhunderten
wie die Ladung in untergegangenen Schiffen (Robert Musil) - und doch werden
wir beim Jüngsten Gericht einzeln aufgerufen - aber doch von Christus,
dem Richter. Und wen der richtet, dann richtet er nicht hin sondern richtet
uns her. Dann geht es doch wie in Dostojewskis Roman "Schuld und Sühne"
- der Säufer Marmeladow phantasiert in seinem Wahn: in seiner Angst
vor Ewiger Verdammnis hört er Jesus plötzlich rufen: "Kommt auch
ihr, ihr Verbrecher, ihr Hurer und Huren, ihr Saufbolde, auch ihr dürft
in meinen Saal." Und die Gerechten protestieren: "Herr, warum die? Die haben
doch das Zeichen des Tieres auf der Stirn." - Der Gott der Barmherzigkeit
und des Trostes (2. Korintherbrief 1, 3) wird die Gerechten zu den
Bedürftigen wenden - und endlich werden sie sich erweichen lassen. Niemand
wird ausgespien.
Das Bild von der ewigen Hölle kommt wohl von dem inneren Brand des
schlechten Gewissens. Auch ist es Produkt des Nachdenkens von Theologen.
Die identifizierten sich mit Gott und meinten, er könne es sich einfach
nicht gefallen lassen, daß einer ihm ins Angesicht widersteht. Derjenige
muß so von allen guten Geistern verlassen und vom Bösen besetzt
sein - den kann man nur ganz weit von Gott fernhalten, meinten die Theologen,
die sich für die Leibgarde des Höchsten hielten.
Aber brauchen denn teuflische Qualen jenseitige Höllen? Scham ist
unausweichlich, wenn wir unsern Opfern gegenüberstehen. Wenn wir sehen,
was aus unsern Versäumnissen geworden ist, brennt's doch innen. Auge
in Auge mit dem von mir Verletzten, möchte ich doch ungeschehen machen
oder wieder gut machen, schon jetzt oder nicht? Wenn ich hier mich drücke,
soll das denn so bleiben? Ich muß doch den Prozeß bekommen. Ich
weiß es. Und wenn ich es nicht weiß, weil ich es verdrängt
habe, muß ich erst recht den Prozeß bekommen. Denn der löst
meine Taten und Untaten von mir ab, schafft, daß ich büßend,
erkennend, mich distanzieren kann. "Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut"
(1. Timotheusbrief 4, 4). - Ich soll mich als gute Schöpfung wiederfinden
können - dazu ist doch das Gericht nötig.
Und Christensache ist nicht der Glaube an die Sünde, sondern an die
Gnade: Gott wird die Schuld aufsaugen. Erlösung von dem Bösen geht
doch nur mit Erlösung auch des Bösen. Sollte am Jüngsten Tag
von Feindesliebe nicht mehr die Rede sein?
Unsere Chance ist sein Lieben, nicht mein Lieben. Um seines Namens willen
- wenn einer in Höllen verloren geht, ist Gott noch nicht am Feiern,
sondern sucht das Verlorene. Dazu paßt die schöne Geschichte von
den Chassidim: Nach der Ankunft des Messias werde die Hölle ans Paradies
stoßen, damit man einen größeren Tanzsaal habe. Und Gott
tanzt vor.
Eine Hoffnung für die Bösen sind die Guten. Sie werden helfen,
die Beladenen zu heilen. Ein Gebet aus einem deutschen KZ lautet:
"Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt
aller Rache und allem Reden von Strafe und Züchtigung. Aller
Maßstäbe spotten die Greueltaten und der Blutzeugen sind gar viele.
- Darum, oh Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden,
daß du sie ihren Henkern zurechnest, sondern laß es anders gelten;
schreibe vielmehr allen schlechten Menschen zugut und rechne ihnen an all
den Mut der andern, ihre hochgesinnte Würde, die Hoffnung, die sich
nicht besiegt gab und das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen
ließ; all die durchpflügten, gequälten Herzen, all das, mein
Gott, soll zählen und nicht das Böse - auf daß Friede werde
auf dieser Erde über den Menschen, die guten Willens sind und daß
der Friede auch über die anderen komme."
Unsere Seele ist von Natur aus sehnsüchtig nach Vollendung - "anima
naturaliter eschatologica" heißt das in Kirchenlatein. Wir können
von hier und jetzt nicht alles erwarten, fühlen uns im Jetzt nicht
völlig heimisch.
Es kommt darauf an, hier schon anzufangen, was der Ergänzung wert ist.
Und das ist leicht herauszufinden: Wir wissen, was wehtut. Und was wehtut
lindern, ist gut. Zumal das Herz der Welt davon betroffen ist; was wehtut,
sagt Gott-Christus, tut mir weh; wer lindert, lindert mein Weh. - Das war
"die Vision, die Jesus hatte, um Gott herabzuholen zu uns auf die Erde: Wer
die Menschen kennt und ihnen die Not stillt, der kennt Gott" (Eugen Drewermann).
"Ich war hungrig" - Jahr für Jahr sterben fünfzig Millionen Menschen
an Hunger, und es werden rasend schnell mehr. Statt Hunger zu lindern, kaufen
wir von Staats wegen Kriegsgerät für Milliarden von Mark - also
müssen wir privat mehr tun.
"Ich war durstig" - durstig nach Aufmerksamkeit. Bemerkt werden, wahrgenommen
werden, miteinander gehen ist lebenswichtig. Bestärken wir den einen,
den andern: gut, daß du du bist - du, egal was sonst noch, du gut.
"Ich war in Fetzen", Zeitung als Zudeck - frierend, bloßgestellt. Also
bekleiden wir, entschämen wir. Auch Lob kleidet. Bestätigen wir
Schönheit und Anmut, nehmen wir den Nächsten wahr in seiner Begabung.
"Ich war gefangen" - Menschen besuchen hinter Gittern zeigt: Du bist mehr
als deine Tat. Du gehörst zu uns, ich bin dir nah. Auch den Nächsten
nicht aufgeben, der befangen ist in den Gespinsten von Psychosen - "die
zerbrochenen Suchwanderungen nach einer verlorenen Liebe" (Eugen Drewermann).
"Ich war fremd" - die zu uns aus Hunger kommen, sie würden gern in ihrer
Heimat bleiben; wer ist gern in der Fremde und mittellos. Helfen wir, nicht
vor Not auswandern zu müssen, wie es Millionen Deutsche einst mußten.
Auch wer bei sich selbst fremd ist, ihm langsam zur Befreundung mit sich
selber helfen - Freundschaft anbieten und aushalten.
Und das alles ist Gott getan und eben auch verweigert, ist auch mir selbst
getan und verweigert. Irgendwie ahnt das jeder Mensch, woraus die Schwermut
über das Leben kommt, und mein Ungenügen angesichts allen Jammers.
Gott muß einen jeden in Liebe ergänzen, wie sollen wir sonst
heilwerden.
Daraus folgt auch: "Nicht die selbst geleistete und nie glückende eigene
Gerechtigkeit ist die Basis moralischen Verhaltens, sondern die göttliche
Gnade, welche die Lücken ausfüllt, die jedes Handeln auch beim
besten Willen lassen muß" (Carl F. v. Weizsäcker). Amen.