Predigt 24. Oktober 1993
Keitumer Predigten Traugott Giesen 24. Oktober 1993
Nimm dein Bett und geh
Und nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum, und es wurde bekannt,
dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum
hatten, auch nicht draußen vor der Tür, und er sagte ihnen das
Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von
vieren getragen, und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge,
deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das
Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben
sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir
vergeben. Es saßen aber da einige Schriftgelehrte und dachten in ihrem
Herzen: was redet der so, er lästert doch Gott. Wer kann Sünden
vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass
sie so bei sich selbst dachten und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches
in eurem Herzen? Was ist leichter: zu dem Gelähmten zu sagen, dir sind
deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett
und gehe heim. Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat,
Sünden zu vergeben auf Erden, sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage
dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim. Und er stand auf,
nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich
alle entsetzten und Gott priesen.
Markus-Evangelium, 2,1-8
Die Wunder des Jesus sind zum Nachahmen bestimmt. Ich sage euch,
sagt Jesus einmal, wenn ihr mir glaubt, werdet ihr die Werke auch tun,
die ich tue und noch größere (Johannes-Evangelium 14,2).
Wir wissen natürlich, dass es Leiden gibt, die hier nicht zu heilen
sind, Querschnittslähmungen, Unfälle oder Kriegsschäden,
Amputationen. Den Lurchen wachsen Beine nach, nicht den Menschen; wir sind
zu kompliziert gebaut. Aber die Lähmungen, die von der Seele ausgehen,
sind viel häufiger. Ich bin wie gelähmt, ich bin wie ns Bett gefesselt,
nichts geht mehr, festgenagelt, erstarrt. Wer hat es nicht schon erlebt oder
muss es gerade wieder durchmachen oder kennt einen Nächsten, der sich
von der Welt angewendet hat. Nichts geht mehr ein Krankheitsbild unserer
Tage, und es wird häufiger. Depressionen bis zur Versteinerung nehmen
zu. Eben ging ein Mensch aus Keitum unter den Zug. Er hielt es nicht mehr
aus hier, schaffte sich sich selbst vom Hals, konnte nicht mehr leben wollen.
Viele therapeutische Bemühungen waren vergeblich. Die er liebte, mied
er. Die Kinder wollte er nicht sehen. Aber das ist schon falsch gesagt: er
konnte wohl nicht wollen.
Jesu Wort Nimm dein Bett und sei geheilt, erreicht nicht jeden,
stellt nicht jeden wieder auf die Beine. Es bleibt Unheilbares in dieser
Zeit zur Genüge: es bleibt früher Tod, es gibt Menschen wie Heinrich
von Kleist, der im Abschiedsbrief vor seinem Selbstmord schreibt: Du,
Schwester, hast an mir getan, was in Kräften eines Menschen stand, um
mich zu retten. Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.
Nun lebe wohl
Mir war auf Erden nicht zu helfen.
Und doch. Wir haben noch nicht genug geglaubt, noch nicht genug gehofft,
gewollt. Über keinen, der meinte, gehen zu müssen, ein Urteil!
Aber unser Lebensstoff ist noch nicht ausgebrannt. Unsere Begabungen haben
sich noch nicht genügend verströmt. Unser Quantum Lebenswille ist
noch zäh. Unsere Seele muss noch arbeiten. Bitte, glaub das von dir.
Das schließt ja nicht aus, dass man in glücklichen Stunden meint,
alles loslassen zu können. Über den Wolken im Flug der Gedanke:
jetzt in den Himmel fliegen und nicht mehr in die Mühen zurück,
in dies Gemenge aus Wünschen und Enttäuschungen. Einverstanden
sein, wenn man von hier genommen würde, gut, aber wenn dann das Flugzeug
wieder kräftig durchgerüttelt wird in einem Luftloch, und der Wille,
am Leben zu bleiben, uns festkrallt in die Sessel und uns beten macht, dann
wissen wir wieder, was wir wollen müssen. Auch recht, wenn wir
erschöpft von der Plage des Tages mal uns in den Schlaf weinen mit der
Idee, schön wärs, wenn man nicht mehr aufwacht.
Aber dann, der neue Tag ist da mit soviel Sonnenaufgang, und er hebt dich
auf die Beine. Lass uns nachschauen, wie man wieder in die Welt passt, in
diesen Tag, und noch einiges bewegt.
Die vier Männer in Jesu Geschichte nutzen ihren Tag und ihre Beine.
Sie haben einen Freund, der sich, scheint es, längst abgefunden hat
mit seinem Gebrechen. Wochen, Jahre im Bett, hinfällig geworden,
hinfällig bleiben, sich bedienen lassen, Macht ausüben mit
Hilflosigkeit vielleicht auch. Und jammern: Ich möchte so gerne ohne
Hilfe auskommen, aber ich bin ja nicht zuständig. Vielleicht sind die
Freunde eingesprungen: sie hatten den Jammer und das Gejammer satt und suchen
den besten Arzt. Der hat wegen Überfüllung geschlossen. Sie decken
das Dach auf. Sie seilen das Bett mit dem Patienten direkt vor Jesus ab.
Als der ihren Glauben sah herrlich, wie hier stellvertretender Glaube
geehrt wird: Jesus schreibt deren Zuversicht dem Kranken zugute und heilt
ihn. Er heilt ihn auf ungeheure Weise: Dir sind deine Sünden vergeben.
Steh auf. Und da muss was Ungeheures passiert sein: in dem Gelähmten
muss ein Film rückwärts zu laufen begonnen haben: eine Entfesselung,
ein Abketten, ein Entschnürt-Werden geschieht ihm. Zu Gemüte, zu
Bewusstsein kommt ihm das Knäuel aus fremder und eigener Schuld, das
ihn zunehmend gebunden und gelähmt hat. Es kann so vieles gewesen sein,
was ihn mit Bleigewichten behängte, mit Flüchen belegte. Es kann
Missbrauch ihm angetan worden sein, der ihm die Liebe vergiftete. Er kann
ein Scheitern erlebt haben, das ihm alle Energie aussog: eher wollte er gar
nichts mehr, als noch mal so versagen. Er kann Zeuge gewesen sein des Unfalls
eines Geschwisterkindes und sich fortan schuldig fühlen und darum nichts
mehr selbst in die Hand nehmen wollen.
Es gibt im 1. Buch Mose im 19. Kapitel eine Geschichte von Lots Frau,
die zurückblickte auf ihre brennende Heimatstadt und im Zurückblicken
zur Salzsäule erstarrte. Vielleicht wurde sie gewahr, was sie ihren
Töchtern angetan hatte. Ihr Vater hatte die Töchter zur Vergewaltigung
an Feinde übereignet, um sich selbst zu retten, und die Mutter hat es
mitgemacht und hat lange verdrängt und vergessen, bis die Erinnerung
sie erreicht und sie erstarrt zu Salz wegen der ungeweinten Tränen.
Lähmung aus seelischen Gründen ist ja ein
Sich-außer-Kraft-Setzen, ein Verweigern aus Angst, es könnte noch
schlimmer kommen. Es könnte noch schlimmer kommen, wenn man vor die
Tür unter Menschen geht. Und wie viel Liebe bleibt ungeschehen, weil
die erste Liebe so enttäuschend war, wie viel Talente werden vergraben,
weil man sich nicht noch einmal die Finger verbrennen will, und so bleibt
man gelähmt, bis einer mit Vollmacht sagt: Dir sind deine Sünden
vergeben. Die dir angetanen Sünden sind in ihrer Wirkkraft entwichtigt,
aufgehoben. Und dein Versagen hat auch keinen Wiederholungszwang bei sich.
Die Theologen zur Zeit Jesu waren da anderer Meinung: Sünde muss Sünde
zeugen, Sünde muss Sünde bleiben. Was Hänschen gelernt hat,
wird Hans weitermachen: wir bleiben Geschobene, von hinten Geschobene von
unseren oder unserer Eltern Sünde. Erst dermaleinst wird Vergebung
möglich sein, wenn überhaupt.
Aber Jesus hält dagegen: Jetzt, heute ist neues Anfangen dran! Du bist
nicht nur Geschobener, sondern auch Gezogener, nicht nur bestimmt von Schuld,
sondern auch angesaugt von Auferstehungskraft, von Wandelwillen; Hoffnungslicht
leuchtet dir. Ja, Schuld wirft Schatten, aber der neue Augenblick kommt von
vorn und zieht dich zu neuen Ufern. Vielleicht musst du endlich lange weinen,
dass deine Erstarrung weggeschwemmt wird. Vielleicht musst du um Vergebung
bitten du weißt schon, wen. Oder dein lähmendes Hassen
musst du dir endlich durch Mitleid mit dem, den du hasst, abschmelzen lassen,
vielleicht.
Es ist zu kurz gedacht, dass Jesus nur gesagt haben sollte: dir sind deine
Sünden vergeben. Er setzt einen heiligen Prozess in Gang, worin einer
sich wieder findet, sich neu findet, sich neu empfängt; neu geboren
ist er sich und lernt wieder das Laufen. Doch: geh und fall und
kriech auf allen vieren, und spür die Kraft, die dich wieder aufrichtet
zum eigenen Ich. Da passt das Gedicht von Bertold Brecht hin:
Die Krücken
Sieben Jahre wollt kein Schritt mir glücken.
Als ich zu dem großen Arzte kam,
Fragte er: Wozu die Krücken?
Und ich sagte: Ich bin lahm.
Sagte er: Das ist kein Wunder.
Sei so freundlich zu probieren!
Was dich lähmt, ist dieser Plunder.
Geh, fall, kriech auf allen vieren!
Lachend wie ein Ungeheuer
Nahm er mir die schönen Krücken
Brach sie durch auf meinem Rücken,
Warf sie lachend in das Feuer.
Nun, ich bin kuriert: Ich gehe.
Mich kurierte ein Gelächter.
Nur zuweilen, wenn ich Hölzer sehe,
Gehe ich für Stunden etwas schlechter.
Ja, das ist Glück, wenn einer uns aufstehen heißt, uns mit seiner
Kraft in unser Können stemmt, uns das Gehen lehrt, indem er noch mal
neu uns erinnert an unsere Kräfte und uns die Krücken vergessen
macht.
Heilen kann schon anfangen, weil einer mich nicht als Gelähmten, als
Gebannten nimmt, sondern mich als Gelähmten zum Tanz holt. Ein Gott
sei Dank für alle die, die Entwicklung anfangen mit Menschen,
die in Selbstverurteilung gefangen sind. Ein Dank für alle, die geduldig
und stark die kasernierten Seelen ins Freie führen, die nicht aufgeben
die, die sich selbst aufgegeben haben.
Der Markus-Text hält fest, warum Jesus den Gichtbrüchigen heilt:
Er heilt, damit ihr wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, die Sünde
zu vergeben. Der Menschensohn ist bei Jesus der einzige Titel, den
er sich selbst beilegt: Menschensohn, Menschenkind. Ja, es gibt beim Propheten
Daniel eine Stelle, wo der Menschensohn das jüngste Gericht einläutet.
Aber wenn Jesus von sich als Menschensohn spricht, meint er gerade nicht
das Ungewöhnlich-Einzigartige, sondern bietet sich dar als Muster für
wahres Mensch-Sein, er hätte auch sagen können: damit ihr wisst,
dass der Mensch Vollmacht hat, die Sünde zu vergeben, sprach er: Steh
auf. Es ist uns aufgegeben, einander von Schuld abzuketten und Flügel
der Freiheit einander zu bauen. Ein Stück weit fliegen, es kann auch
humpeln sein, kriechen. Hauptsache: nicht mehr gelähmt.
Steh auf, der Tag wartet auf dich, erwirk Freude. Sieh mit Christus dein
Leben voll Werdekraft. Du bist eine neue Kreatur. Das Alte geht, ein Neues
ist in dir am Werden.