Keitumer Predigten Traugott Giesen
03.01.1999
Ein keltisches Gebet:
Ich erhebe mich heute durch die Kraft des Himmels: Licht der Sonne,
Strahlen des Mondes, Herrlichkeit des Feuers, Schnelligkeit des Windes.
Tiefe der See, Festigkeit der Erde, Härte vom Fels. Ich erhebe mich
heute durch Gottes Macht, mich zu führen.
Zum Neuen Jahr: Anfangen ist unser Auftrag.
Die Tage des Nachdenkens-über-das-was-man-tun-soll sind zu Ende.
Ich suche das starke Wort fürs neue Jahr, das was in Szene setzt,
was zurechtrückt und transportiert. – Mein Schlüsselwort ist:
anfangen. Anfangen könnte auch dein Ankerwort werden.
Ich suchte im Wörterverzeichnis der Bibel dies Leitwort: Natürlich:
Am Anfang schuf Gott..., dann: Zu der Zeit des Seth fing man an, den Namen
Gottes anzurufen. Dann der Rat bei Sirach: „Ehe du etwas anfängst,
bedenk das Ende“. – Zögerlich scheint zu Beginn des geistigen Wahrnehmens
das Anfangen, aber mit Jesus taucht das Wort „anfangen“ gesteigert auf:
Wohl kein Mensch war so „Anfang in Person“, nicht verheerend, nicht rasend,
sondern augenöffnend, so wie ein Freund deine Schulter anrührt
und du weißt, es tut sich ein guter Weg auf.
Im Neuen Testament heißt es: Jesus fing an zu verkündigen
und der Tote fing an zu reden und sie fingen an fröhlich zu sein.
Paulus dann wie ein letztes Wort zu diesem Thema: „Ich bin sicher, der
angefangen hat das gute Werk in euch, der wird es auch vollenden“ (Phil.
1, 6).
Und von Christus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens (Hebr.
12, 2), heißt es: „Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“
Anfangen ist höchst wichtig. Aufhören auch, loslassen, rückblicken
– wir haben es getan, Silvester: Mancher war froh, das Jahr verabschieden
zu können. Manchen hat es hart getroffen, da war Verlust, von der
Seite reißen, Wehmut, Scheitern. – Und doch auch Neues hat die Arme
gefüllt. Kinder kamen, Enkel vielleicht – kein stärkeres Anfangen
als eine Geburt.
Darum ist auch Weihnachten so mitreißend. Das Neugeborene strahlt
ins Dunkle und fordert Zuneigung und entzündet augenblicklich alles
Licht der Liebe. – Das Kind bringt die Rettung, es ist Siegel auf die Hoffnung,
daß noch viel anfängt. Und, ja auch die Auferstehung des Christus
ist Anfang – fast geht es jetzt erst richtig los. –
So sind Christen eigentlich Aufbrecher, Aufgeweckte; die Zeit zu verschlafen
gilt als höchst bedrohlich, Jesus hat den Namen Bräutigam – der
zum Fest ruft. „Wach auf der du schläfst, steh auf von den Toten,
so wird dich Christus erleuchten. Kauf die Zeit aus!“ so die Fanfare des
Anfangs im Epheserbrief (5, 14.16).
Das neue Jahr tickt schon, Montag geht es richtig los. Was alles die
Politik vorhat, haben wir gelesen – als Bürger sind wir schon mitgerissen
zu neuen Ufern: Der Euro hat schon ein neues Land geboren: Euroland; schon
wird der Ruf laut, wir brauchen keine deutsche, französische Außenpolitik
mehr – rasant werden wir zu Europäern; vielen geht es zu schnell –
aber ich verstehe Gottes Ruf nach vorn ganz entschieden auch als Lockruf:
Traut euch mehr Verwandtschaft zu, hütet nicht eure Grenzen sondern
staunt über den Reichtum des Anderssein. Zu neuen Ufern werden wir
auch mitgerissen durch Umlernen in Sachen Arbeit: Richtig, daß die
alle Menschen unabhängig vom Arbeitenkönnen und -dürfen
das Lebensnotwendigste haben sollen. Die sich verwirklichen können
durch ihre Arbeit, zum Glück gute Arbeit liefern zu dürfen, bekommen
sie hinzu noch viel Geld – aber was heißt viel. Gerechtigkeit bleibt
große Aufgabe: Daß Kinder und Enkel möglichst ohne Angst
groß werden und gleiche Chancen zu lernen haben, egal, wo die Eltern
herstammen und welches Joch an Einschränkungen sie noch schleppten.
Und daß Mann und Frau sich als gleichwertig erleben, sie die Lasten
tragen je nach Kraft, sie ihr Verschiedensein als Schatz und Quelle und
schönes Glück wahrnehmen. –
Europa, Arbeit, gerechtere Verteilung, Verschiedenheit als Schatz der
Geschlechter – diese vier öffentlichen Aufgaben seien zum Jahresanfang
für uns alle genannt.
Aber jetzt: Du persönlich, zu welchem Anfang ruft Dich Gott.
Oder bist du schon so alt, daß du sanft in den Tag gleitest,
allein schon das morgendliche Fertigwerden ein Tagwerk dir scheint – und
du gehst gänzlich darin auf, den Alltag zu bestehen. Und dann gleitest
du lebenssatt wieder sanft aus dem Tag. – Viel Anfang muß irgendwann
nicht mehr sein, obwohl: Das trotzig-staunende „Ich leb ja noch“ hat viel
Energie – wie sie zäh den Rollwagen beherrschen, die Zuwendungen noch
eisern regulieren, wie sie die Feste wahrnehmen. Wie sie den Jungen Bescheid
geben – ziemlich angstfrei nach so viel überstandenem Hunger und Mühen
und Abschied und Krankenhaus, Hauptsache: nicht fallen. Anfangen im Alter
bringt Unruhe – wird gern gemieden. Aber doch anfangen, aufzuräumen
und Frieden zu schließen, abzugeben, dankbar zu werden, Kindern recht
zu geben – noch lernen, leicht zu werden, dann auch gern mal zu sterben
– ja das könnte im Alter dran sein, lernen, klein zu werden, nicht
mehr zu zwingen, mal gern das Leben zu segnen.
Und die Jungen. – Sie wissen nichts mit sich anzufangen – ist ein trostloser
Satz. Denn mit den Jungen fängt das Leben noch mal ein Projekt an,
setzt der Baum des Lebens wieder einen neuen Zweig an. Mit dir soll Neues
werden: dein Merken, dein Fühlen, dein Verknüpfen, dein Lieben
ist eine neue Figur des Lebendigseins. Ob durch dich ein neues Menschenkind
in die Welt kommt, oder du einen noch dichter gepackten Prozessor erfindest,
auf daß die Computer noch handlicher werden, erprob es. Vielleicht
wirst du Meisterkoch oder -köchin; vielleicht kommt durch dich ein
neues Wort in die Welt, ein Gedicht, eine Melodie, eine Geste. Oder du
wirst reden, zuhören, dir ein Bild machen, zu einem Entwurf verhelfen,
wie ein Nächster das Mobile seiner Beziehungen entwirrt bekommt. Du
kannst Menschen helfen herauszufinden, was sie wollen. Jedenfalls bist
du vorgesehen für Hochwichtiges. Gott fängt sein Schaffen ewig
neu an, und du, wir Jetzigen sind Gottes Anfang, in uns tastet das Vollkommene
sich in Irdisches, in uns wird das Heilige anfaßbar.
Und du kannst Power entwickeln. In dir entwickelt Geist ein Kraftfeld
ganz eigener Art, bitte sei auf dich gespannt.
Es kann nicht sein, daß in diesem Jahr so viel Weltbewegendes
dich mit durchrütteln wird, aber persönlich ließest du
es laufen, wie’s kommt. Das neue Jahr soll auch Baustelle sein für
Dein Persönliches. Laß dir Entwicklung gefallen zu mehr Du,
mehr Glück, mehr Wirken, mehr Geschick.
In welcher Hinsicht willst du es anders haben als jetzt?
Willst du von einer Unart abkommen, oder mehr noch lernen die Kunst,
vom Leben zu nehmen ohne zu schaden – wie die Tiere, die das Gras rupfen,
nicht entwurzeln?
Willst du in Sachen Liebe Neues anzetteln – willst endlich nur ausgeben,
was du vorher eingenommen hast – willst also das Maß deines Vermögens
endlich beachten? Willst du etwa frei werden vom Laster, ohne Notwendigkeit
zu bitten (Marquez)?
Und wen willst du in Zukunft verteidigen? Wem feste Burg werden?
Vielleicht hast du auch genug gelitten an deiner Schafsgeduld und machst
Schluß damit, dich selber auszubeuten?
Bitte glaub, daß du anfangen kannst. Und eigentlich hast du doch
schon angefangen – hast alles schon im Gehirn hin und her gerückt
und die nötigen Griffe geträumt. Du bist in Gedanken schon vorweg
– nur dein Fleisch ist schwach und hinkt noch. – Hat dich der Geist nicht
schon über die Mauer gezogen? Der in euch angefangen hat das gute
Werk, der wir es auch vollenden. – Setz darauf, daß dein Gott dich
glücklich machen will – also dich braucht, dir auch Freunde zu Schritthelfern
gibst, daß du aufhörst, dir im Weg zu stehen. Schick dich ans
Werk.
Und der Magnet in Richtung Zukunft sagt: „Ich bin bei euch alle Tage,
bis an der Welt Ende“. Fang an, fang das Anfangen deiner Rettung an: daß
du im Rahmen deiner Kräfte wirkst – nicht über- nicht unterfordert.
Und sorge nicht: Aller Beginn ist auch Widerhall. Du, wenn du deine
Trägheit, deine Unschlüssigkeit, den Wankelmut zur Seite fegst,
tust du nur Geübtes – deine Vorfahren und du 0selbst – haben schon
so viel Aufbruch geschafft.
Und denk doch nicht, du könntest mit matter werdendem Antrieb
einfach sanft ausklingen. Dein Paradies will sich von dir finden lassen
im Geheimnis jeder Zeit und jeden Alters, als Gnade des Gelingens. Du,
was du auch beginnst, nicht Niemandsland betrittst du sondern Freundesland
– und du triffst auf Brüder und Schwestern des Christus – vielleicht
unter einem Harnisch versteckt. Und du kannst die harte Schale schmelzen.
Auch das ist eine Schubkraft: Jede erste Begegnung ist auch ein unverhofftes
Wiedersehen. Was anfangen soll, ist längst an den Start geschoben,
Hinwege sind schon geebnet. Du mußt es nur tun. Wach auf. Geh ran
an dein Jahr, dein Anfangen.
Den Abraham, die Sara rief Gott einst aus ihrer Heimat, ihrer Religion
– in ein Land, das ich euch zeigen werde –und sie gingen und hatten nichts
als die Verheißung und eine Richtung.
Wohin ruft dich Gott, wofür läßt er uns Zeit? Jedenfalls
kannst du anfangen, kannst wenden, kannst beginnen, dich treibt ein Sehnen
aus besseren Motiven. Du willst es nicht bewenden lassen bei den erworbenen
Erfahrungen und die Menschheit insgesamt auch nicht. Sonst wären wir
insgesamt schon gestorben an Altersschwermut, am Leichengift des Tatsachenbewußtseins
zugrunde gegangen, sagt Sloterdijk. Gegen die Tendenz zu versteinern, ruft
uns Gott zu: Wach auf, steh auf von den Toten.
Bereiten wir das Neue, das Bessere, das Gerechtere, „Freude die Fülle“,
jeder in seiner Haut, jede nach ihrer Fasson – aber in Gottes Morgen. Amen.