Keitumer Predigten Traugott Giesen 16.05.2004

Das Vaterunser

Matthäus 6, 9-13

Vater Unser im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.

Mit dem Vaterunser zieht sich ein unendliches, geflochtenes Band durch die Menschheit - in allen Sprachen, zu allen Zeiten, einzeln und in großer Gemeinde: ein Anruf, sieben Bitten, eine Lobpreisung, und Amen - das Schlusswort überhaupt: Ja, so ist es. So sei es! Bitte! Beten ist immer ein Wissen auf Hoffnung, wissen, dass Gott weiß, ist die Substanz des Glaubens. Beten ist auch wahr, wenn einer nur heimlich, halb skeptisch, zögernd, sehnend, dieses unvorstellbare <Du> anruft. Tastend in seine Richtung klagt, schreit, oder ausbreitet, was bedrückt oder ihm die Freude tanzt.

„Jede bequeme Vorstellung von Gott - ist Schwindel“ (H. Brodkey). Die nur 62 Wörter des Vaterunser entfalten ein sehr vielschichtige Beziehungsgeflecht von Mensch und dem Geheimnis der Welt.

Vater unser im Himmel!

Das ist Anruf, Hinruf, Herruf, Heimruf der Menschheit. Damit hat das Leben eine Anschrift. Wir wissen, wo wir hingehören, wem wir zugehören, wer zu uns gehört. Ohne Einschränkung: Wir, alle Menschen, sind gemeint, wir aufgerichtet durch die Einzigartigkeit, die das Kind für den Vater hat; Du, wir, mit ihm zum Vater nie mehr klein und mickrig. Du hast uns nur wenig niedriger gemacht als Gott selbst, mit Ehre und Herrlichkeit ihn gekrönt (Psalm 8,6). Und wir Menschen werden durch den gemeinsamen Vater zu Schwestern und Brüder, zum Wir werden wir durch unsern Vater. Der natürlich auch Mutter ist. Suchen wir andere Grundwörter: Schöpfer, oder Nikos Kazantzakis: „Gott ist die Summe von Bewusstsein im Universum.“ – oder das Herz aller Dinge, mütterlich-väterlicher Lebensgrund. An ihn, sie richtete Hermann Hesses Goldmund seine Klage, ihr weinte er dies unerträgliche Leid des Sterbenmüssens entgegen, ihr gab er sich anheim, ihr gab er den Wald, die Sonne, die Augen, die Hände, ihr gab er sein ganzes Wesen und Leben zurück, in die mütterlichen Hände.

Es ist ein Glück, Gott unter dem Namen Vater oder Mutter angehen zu dürfen. Nicht Triumph und in den Staub treten ist sein Wesen, nicht „Herr der Heerscharen“ ist sein Titel, sondern Vater, Vater Jesu und unser aller-auch der Versager und der Geschundenen, Er, sie, das uns Umarmende und Umspannende, in dessen Haus wir sind: Vaterhaus: Leben. Leben keine Schmach, nicht Hölle - nur wir Menschen sind einander Hölle, verlieren unser Menschsein, indem wir anderen ihr Menschsein abschälen wollen. Vater unser: Erbarme Dich deiner verlorenen Kinder, die monströs auftreten, Leben zertreten.

Geheiligt werde dein Name.

„Liebhaber des Lebens“ wirst Du in Weisheit 11,28 genannt. Als von dir selbst uns offenbart gilt: „Ich bin bei euch“, das ist dein Name: Jahve (2. Mose 3,14) oder „Gott mit uns“- hebr.:Joschua- Jesus: Ja, bitte, geheiligt werde dein Name bei uns: Lass uns nicht so kaputtgehen, dass wir über dich und die Lebewesen, die dein Siegel tragen, hinwegstampfen. Daß alles, was west, dir gehört, ist das Wesen aller Dinge. Alle Materie hat dich zur Mutter. Alle „animals“ haben dich zur anima, alle Menschen sind von dir dir ähnlich gemeint. Geben wir recht deinem Anrecht über alles. Geheiligt, verwirklicht, werde dein für uns Dasein durch uns, geheiligt werde dein Name durch uns.

Dein Reich komme.

Es ist hier Werdewelt, Werdezeit, es ist noch verborgen, was wir sein werden. Aber wir wollen geliebt sein. Und zwar stets uns selbst zum Trotz. Das kann nur Gott, das Allwesen, das Liebe ist. Ja, dein Reich der Liebe komme.- Und der Tag heute werde ein Stück Weg zu deinem Reich, heute soll das Fernziel sich schon abzeichnen in Umrissen der Freude und Freundschaft. Heute das Reich Gottes mitten unter uns im Anbruch (Lukas 17,21): Weniger Tränen, weniger Schmerz, weniger Alleinlassen, weniger Hass, mehr mit sich ins Reine kommen. Heute nicht verloren gehen. Heute über der leeren Tiefe ein "Wir" als Planke. Gott, dein Reich komme in Gestalt von gutem Graubrot, Alltag, von Recht und Teilefreude, und der Gewissheit, „dass die, die wir lassen mussten, schon wandeln auf der Rückseite der Zeit“ (X. Marias).

Dein Wille geschehe.

Noch lässt Gott unserm Willen Raum, lässt uns das Feld von Versuch und Irrtum, lässt uns Raum für unsere Vorstellungen auch von Gott. Dass trotz unserer Irrungen und Wirrungen sein Wille geschehe, erbitten wir. Aber was will ich, dass es heute geschehe, bei mir? Mit mir? Als Wille des Himmels? Was will ich heute tun an Gutem? Welche Dreistigkeit, welche Trägheit lassen? Es ist auch die Bitte, dass sein Willen bei mir und durch mich geschehe.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Erstmal: Nicht mein, sondern unser – wir kriegen kein Glück für uns allein. Und es geht ums tägliche Brot, - nicht auf Lager, nicht auf Vorrat, sondern das Nötige für heute. Morgen ist morgen, sieh erst mal zu, ob du dann noch hier bist, überhaupt noch was zu beißen brauchst. Brot: Luther zählt gute Politik dazu, Geld, Friede, Ehre, frommen Gemahl, gute Freunde und getreue Nachbarn. Dazu braucht es die eigene Plage. „Bete, aber fahre fort zu rudern.“ Den Garten Eden bebauen und bewahren – das gehört zum Auftrag, Mensch zu sein. Und gute Freunde und getreue Nachbarn regnet's nicht vom Himmel, die muß man sich erarbeiten. Aber die menschenfreundliche Natur ist Geschenk, „das Ins-Sein-Treten des Seins“ ist Gottes Idee und Schöpfung. Dass der Boden uns Korn geben kann, dass Bauern säen und bestellen und ernten, dass Bäcker backen - dies Geflecht von Gelingen, dies Zusammenpassen ist doch Wunder. Gott macht, dass sich die Dinge selbser machen - das ist seine Stärke. Dass das Gelingen morgen noch währt - dafür zu beten ist allemal klüger, als einfach voraussetzen, dass alles so weitergeht. Beten schließt immer die eigene Mühe ein, Schrittmacherdienste zu leisten. Darum ist Beten und Wissenschaft nicht Konkurrenz. „Der erste Schluck aus dem Becher der Wissenschaft macht atheistisch aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott“ - sagte Max Planck. Wir erschaffen doch nicht, sondern verwenden das Vorgefundene, hoffentlich zum Segen.

Und vergib uns unsere Schuld -

gehört eigentlich mit zum täglichen Brot, denn beim Beschaffen werden wir schuldig, wir verdrängen, wir mit unserm starken Euro kaufen den Markt leer, wir mit unseren Beziehungen haben Privilegien, wir müssen nicht zu Fuß gehen, woanders müssen 30.000 Menschen sich einen Arzt teilen. Und hier? Wir waschen unsere Autos mit Trinkwasser, woanders fehlt der einfache Brunnen. Deine, meine Schuld? „Mit nichts haben wir uns Sonderrechte erworben - das leben. Aber ich will Leid nicht tragen, eher abschieben. Darum die ungerechte Lastenverteilung.Wo man hinguckt, lodert Schuld, Feindschaft entflammt, durch Worte angestiftet, und die „Ausreden, die feigen Mörder“ (M. Walser) machen, dass wir den Augenblick des spontanen Zurhilfeeilens versäumen. Doch ein inwendiges Licht gehe uns auf. Wir bekennen uns schuldig, beten um Vergebung.

Wie auch wir vergeben -

auf dass auch wir vergeben unsern Schuldigern. Gott, laß nicht unser Vergeben Dein Maß sein. So fern der Morgen ist vom Abend, lässt du unsere Übertretungen von uns sein (Psalm 103), bitte. Du räumst neue Chancen ein. „Liebe deckt zu“. Du steckst durch einen andern dem Bedürftigen zu, was ich verweigerte. Einer beleidigt, aber Du schickst einen andern zum Trost. Dieses Geflecht, in dem viel mehr Gutes als Schlechtes geschieht, in dem Buße und Vergebung der Sünden Menge deckt, Gott, dieses Geflecht stärke durch die Liebe, die du in die Welt pumpst.

Und führe uns nicht in Versuchung,

an dir zu verzweifeln. Gott, an Dir verzweifeln - was hätten wir dann noch: „Sag Gott ab, und stirb“, riet Hiobs Frau dem Aussätzigen. Doch mit Gott stürbe das Gute und Schöne und Wahre. „Wenn Gott tot wär, wäre alles erlaubt “, sagt Dostojewski. Und wer soll denn die Schuld der Welt tragen? Wir brauchen Gott, sonst sind wir allein mit all unserer Menschenbestialität. Ohne ihn zu glauben, wie sollte man wagen, ein Kind ins Leben zu rufen? Man kann kein Leben aufzubürden ohne Gott und die Hoffnung auf Erlösung vom Bösen.

Erlöse uns von dem Bösen -

dass diese Bitte getan werden soll ist schon erhellend. Es soll nicht dunkel bleiben über denen in Angst; weil Gott ist, ist vor uns Erlösung, hat das Böse seine Zeit, und seine Zeit läuft ab. „Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will“ (R. M. Rilke). Jedenfalls will ich nicht auf Niedergang setzen und dass alles schlimmer werde und böser. Alle Empörung gegen Greuel hat mehr Recht als flaues Gewährenlassen. Das ist doch der wahre Trumpf der Christen: Nicht ihr Glaube an das Böse, sondern an die Gnade, an die Heilung, denn - und jetzt kommt das riesige „Denn“ der Menschheit, woraus das Hoffen seine Power und das Beten seine Verheißung hat:

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Dein ist das Kommende, du bist daraus nicht vertrieben, sondern wir wandern in das Zukünftige ein, das voll deines Wesens ist. Vorne Du- und alle Energie ist Dein: Du Sonne und Schild (Psalm 84,12): Du, der du die Sonnen befeuerst, und die Liebe nährst, Du, Dein ist die Herrlichkeit: Alle kleinen Sinnoasen, alle Jauchzer und Jubelrufe, sind Schimmer Deiner Herrlichkeit, ja immer. Du Herd unseres Existierens, an den noch keiner trat, aber von dem jeder gewärmt ist, Du bleibst immer. Darum beten wir zu Dir, beten uns vor dich hin. Amen.

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