Keitumer Predigten   Traugott Giesen   07.07.2002

Mose 33,12-23: In Gottes Hand, auch wenn sie sich hart anfühlt

Die Bibel ist ja das Logbuch der Menschheit, - vor allem für die Grundfrage: Was läuft überhaupt zwischen Schöpfer und seinem geliebtem, schwierigem Wesen. Die Erfahrungen Israels und der Lebenslauf Jesu sagen Bescheid. Was Israel und dann Jesus mit Gott erlebte, das ist ja mustergültig für die Menschheit - glauben Juden und Christen. Also gut zu wissen, was Moses mit Gott erlebt hat: Es ist nicht Gesetz, aber es ist ein leuchtendes Bild, es kann dir, mir sagen, was sich abspielt in den Dramen des Lebens.

Wir brauchen doch Halt. Eben schon wieder stießen Hoch und Tief so hart aneinander, dass es in unseren Köpfen nur so explodiert. Keine Ahnung, wie das zusammengehört: Montagmittag Empfang der Fußball- Vize-Weltmeister, in der Nacht dann der Absturz zweier Flugzeuge mit 71 Toten. Eben noch das Jauchzen, jetzt das Weinen. Eben noch die Freude, der Glanz, der Jubel, jetzt der Jammer über so viel ausgelöschte junge Leben. Und seit dem auch schon wieder Zeit verrauscht für private Hochs und Tiefs. Aber Fußballjubel und Flugzeugabsturz - himmelhochjauchend und zu-Tode-betrübt prallt klirrend aufeinander. Es ist kaum zu ertragen, kaum zusammenzuhalten.
Hätte ich nicht eine Zuversicht in Gott, der die Bruchstücke des Lebens hält, - ich meine, ich müßte verrückt werden. Und mancher ist nah an der Grenze. Aber da sind auch Menschen mit Getrostsein in den Augen. Du kennst doch auch einen, von dessen Alltagsglauben du eine Scheibe dir abschneiden willst. Hat der sein Vertrauenswissen dem Jesus oder dem Mose abgeguckt? Der leuchtende Jesus hat das Leid als Kelch aus Gottes Hand angenommen. Und der Mose, auch ein Held der Menschheit, hat so viel Hoch und Tief zu schlucken bekommen, - die Spannung war zum Zerreißen gespannt. Laßt uns mit ihm ein Stück gehen.

Mose hatte ja den Auftrag, Israel aus der Knechtschaft Ägyptens zu führen in Richtung Gelobtes Land. Anfangs ging es zügig den Wunderweg durchs Rote Meer und die Wasser standen wie Wände. Es war ein Triumphzug: die Kinder Israels schritten auf Wolken. Auch wurden Israel die Gebote anvertraut, die Tafeln des Bundes der besonderen Zwiesprache zwischen Gott und dem geliebten Volk. Aber dann: Hunger, Durst, Ungehorsam, Heimweh nach den Fleischtöpfen Ägyptens: da war man unfrei, aber hatte seine Arbeit, seine Hütte, sein Mahl. Die der Knechtschaft entronnen waren, vergaßen schnell die Fron, sie verloren die Visionen von Freiheit und Würde. "Nach den Mühen der Berge kamen die Mühen der Ebenen" (B. Brecht). Und Mose verzagte auch. Immer mußte er sich hinhalten für Gott beim Volk und auch für das Volk bei Gott und bekommt dann zu hören: Sage Israel: Ihr seid ein halsstarriges Volk. Wenn ich einen Augenblick nur mit dir heraufzöge, würde ich dich vertilgen (2. Mose 32,5). Das klingt so bedrohlich, als sei das Band zerrissen. Aber dann konnte Mose den Herrn wieder gnädig stimmen, so schien es - und hinterher sagte man ehrfürchtig: Gott redete mit Mose wie ein Mensch mit seinem Freund redet (2.Mose 33,11). Doch ganz so war es wohl doch nicht, z. B. mäkelt einmal Mose wieder: (2. Mose 33,12-23 in Auswahl):

„Woran soll denn erkannt werden, Gott, dass dein Volk Gnade gefunden hat vor deinen Augen? Spricht Gott: du hast Gnade gefunden vor mir, ich kenne dich mit Namen, ich will vor euch hergehen.- Da setzt Moses nach, und will mit einem Schlag die ganze Ungewissheit wegwischen: Mose sprach: Gott, deine Herrlichkeit laß mich schauen! - Da sagte Gott: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen. Aber mein Angesicht kannst du nicht sehen. Doch es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Felsen stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen. Und meine Hand über dich halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen."

Wir kennen alle dies Erschöpftsein, ob das überhaupt noch Leben sei, oder ob es nur ein gottloses, gottleeres "Herumgekrauche" ist. Mose auch, aber er mit seiner Gedrücktheit gibt sich einen Ruck, bricht kurzerhand ins Gebirge auf, um sich ganz persönlich zu vergewissern, ob Gott noch da ist - so wie mancher von uns aussteigt, Extremsport anfängt, sich in eine Liebe stürzt oder in eine Operation oder ein riskantes Geldgeschäft, einfach um den Zusammenhalt mit Gott zu erproben: Bist du noch da für mich? Und wenn er dann ohne Hals- und Beinbruch durchgekommen ist oder eine neue große Liebe gefunden hat oder die schwere Operation bestanden hat, dann - gerettet - glaubt er wieder an sich mit Gott.

Mose wollte Gott schauen. Aber Gott sagt: Nein. Doch du bekommst eine Gewissheit, die du nie verlierst. Es ist wie gebranntmarkt: es ist ein Schmerz wie bei einer Geburt. Durch Schmerzen hindurch die Rettung - und die durchstandenen Schmerzen sinken zurück. Mose möchte völlig aufgehoben sein in der Fülle, will schauen von Angesicht zu Angesicht. Aber Mose kriegt das nicht. In eine Felsenkluft will ich dich stellen, sagt Gott. Kein Licht, kaum Luft, wie zum Ersticken. Felsen himmelan, wie ein tiefer Brunnen, auf dessen Grund du sitzt, aber ein Trost: hoch über dir die Sterne, ein Ausschnitt des Kosmos, dir noch zugeteilt, wie am Gefängnisfenster die Hundeblume, die eine, die Verheißung aufrecht erhält: auch dir blüht noch was. Doch zuletzt wird dir auch diese Aussicht zugestellt. Du bist von Finsternis eingeschlossen, von allen Seiten. Doch du hörst Gottes Wort: „Was dir das Licht verdeckt, bin ich selbst. Es ist meine Hand, die so dunkel auf dir liegt, schwielig und hart. Du meinst, du wärst begraben von Schwärze, doch ich bin es, in den du begraben bist; ich bin, was dir fehlt. Wie Gott bei Mose die Felsspalte verschließt, während er vorübergeht, so ist es Gottes Dunkelheit, die dich nach Gott schreien macht."

Ja, wir hätten gern Gott vor uns. Aber so als Gegenüber ist er nicht zu haben, für sich alleine, von allem abgeschnitten - ist er nicht zu haben. Er ist alle Macht. Besser nicht: Allmacht. Das klingt so, als könne Gott alles, was er wolle. Aber er kann doch nur wollen, was der Liebe dient, also auch unserer Freiheit, und er hat sich ja an die Natur gebunden, die er geschaffen hat, er muß sie beim Wort nehmen, darf sie nicht durch Willkür löchern. Sein Schöpfersein ist ja darin vollkommen: er schafft es, dass sich die Dinge selber schaffen. Er lässt zeugen, gebären, lässt werden und vergehen, aber der Kern des Menschlichen, mein dein Ich, - sie vergehen nicht. Weil Gott ewig mit uns spricht, bleiben wir. Sein Interesse an uns hält uns im Sein. Aber diesen Schatz haben wir nur in irdenen Gefäßen (2. Korinther 4,7). Schon Mose musste diesen Verzicht bitter lernen.

„Lass mich deine Herrlichkeit schauen" - sagt Mose, aber das bekommt er nicht. Schon da war Gott als der große Allmächtige im Himmel uns verloren gegangen. Und nach dem grauenvollen 20. Jahrhundert wissen wir doch: so hat es ihn nie gegeben, er war ein Traum des kleinkindlichen Glaubens, schon Mose wurde er ausgetrieben. Der Allmächtige war ja auch die Ausrede für all die menschlichen Gräuel. Wir fragten: "Wie kann Gott das zulassen?" und widmeten uns weiter unseren Geschäften. „Hat Gott Interesse an ihm, dann errette er ihn doch" - so schwadronierten die Mörder und Glotzer unter dem Kreuz Jesu.

Gott ist anders. Er ist alle Macht, alle Energie, er ist die Power der Naturkräfte und die Lust der Freudentänze und ist auch die fehlgesteuerten Routen der Flugzeuge. Er ist das Lebendige in allem Fleisch, er ist die Liebe und der Mangel. Er liebt in den Begeisterten und darbt in den Einsamen.
So litt Gott in Kahn, als der am Pfosten wie ein Häufchen Elend saß und jauchzte in Ronaldo. Er weint in den russischen Eltern und atmet auf in den Verschonten von Überlingen. Auch den Schmerz derer fühlt er als Stück von sich, die zu spät den Kollisionskurs bemerkten und zerknirschten Gewissens sind.
Gott ist alle Macht. Auch die missbrauchte ist aus seinem Energiehaushalt.
Hiob (12,16) sagt: „Bei Gott ist die Kraft und die Einsicht. Sein ist, der irrt und der irreführt. Nicht Gott führt irre. Aber der irreführt ist Gottes Mensch, der Gottes Kraft missbraucht; so haftet er letztlich wie Eltern haften für die Zerstörung, die der Nachwuchs anrichtet. Abel ist Gottes Abel, Kain ist Gottes Kain. Mutter Theresa und Hitler, Mozart und die Attentäter vom 11. September - Gottes Kinder. Wir Bösguten, Gutbösen, Gottes Kinder.

Also wer zeugt, gebiert, erzieht, verzieht, beschenkt, verdirbt? Wer tut hinter dem Täter? Wer ist Hintergrund von allem? Pilatus sagte zu Jesus: „Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich loszugeben und Macht habe, dich zu kreuzigen?" Jesus antwortete: "Du hättest keine Macht, wenn sie dir nicht von oben her gegeben wäre" (Johannes 18,10f). Gut zu wissen, sagte Bonhoeffer, dass die Schergen Hitlers nicht die letzte Instanz sind.
Das meint wohl auch das Bild von Mose, der in eine Felswand gepresst sich fühlt und noch verschlossen - wie im Sarg. Aber Gottes Hand ist der Sarg. So ist der Tod die eine Hand, mit der Gott in seine andere füllt.

Was für uns so auseinander klafft, Freude und Grauen, Glück und Schmerz spielt sich in Gott ab. Die Freuden und die Schmerzen des Lebendigen erfährt Er, der Ganze, am eigenen Leib. Er ist das Bewußtsein der Welt. Wir Menschen, einzeln und zusammen, fühlen auch was, aber wir sind nur Schnipsel, Zellen, Synapsen, Glieder. Der alles in allem fühlt und weiß, ist das Geheimherz von allem. Alles lebt aus ihm, vor ihm, durch ihn, zu ihm, letztlich werden wir ihn schauen von Angesicht zu Angesicht; wichtig dies, dass unser Einzigsein erhalten bleibt. Bis dahin sehen wir wie in einem beschlagenen Spiegel ein dunkles Bild. Wichtig, dass wir nicht zerfließen zu nichts. Gut, dass wir einander immer wieder die Linien nachzeichnen: Du geliebt, gebraucht! - die Widmung, die jeder bekam, als er zur Erde geschickt war als ein Mensch.

Halten wir einer vom andern viel, erheben ihn, stärken ihm die Lust zu leben, flößen wir einander Mutmachstoff ein, glauben wir an Heiligen Geist in einem jeden von uns, wissen: jedes aufatmende Seufzen ist Gebet. Und nehmen Anteil.
Manchmal schlägt Leid so nah neben Glück ein, dass der Schrei gellt: Warum ich, warum denn? Denk bitte nicht an Schuld. Weder hast du dein Leid dir alleine eingebrockt, noch dir dein Glück allein verdient. Leid und Glück kommen über uns, sie müssen getragen und geteilt werden. Und Leid ist nicht alles. Schon tief im Leid fängt Aufatmen an. Der Trostvogel singt schon, während die Nacht noch dunkel ist. Der Psalmist sagt es so: „Finsternis ist nicht finster bei dir; Finsternis ist dir Licht, und die Nacht leuchtet wie der Tag" (Psalm 139,12).

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